27.11.2012

Kurzbericht über die 41. Brüsseler Informationstagung des FIW

FIW
41. Brüsseler Informationstagung

In diesem Jahr fand die 41. Brüsseler Informationstagung von 6. bis 7. November 2012 im Hotel Le Méridien in Brüssel statt. Die Teilnehmer der Tagung, erstmals über eineinhalb Tage durchgeführt, hörten sieben moderierte Vorträge.

Dr.-Ing. Gernot Schaefer, Vorsitzender des FIW-Vorstandes, begrüßte die Referenten, Moderatoren und Teilnehmer.

Als erster Referent setzte sich Prof. Dr. Harald Koch, Humboldt-Universität zu Berlin, mit dem Thema „Europäischer kollektiver Rechtsschutz vs. Amerikanische Class Action: Die gebändigte Sammelklage in Europa" auseinander und führte aus, warum man sich in Europa überhaupt mit der Sammelklage, diesem „Frankenstein-Monster" (Zitat) zur Stärkung der privater Rechtsdurchsetzung, beschäftige. Das Thema werde immer wichtiger, da auch schon jetzt europäische Gerichte häufig über Ansprüche entscheiden müssten, die transatlantischen Ursprungs seien. Einige europäische Länder hätten  die „Class Action" schon in ihre nationale Rechtsordnung  aufgenommen. Dadurch rücke der Bedarf nach einer  gemeinsamen europäischen Lösung in den Mittelpunkt. Kollektive Rechtsschutzinteressen sollten zulässigerweise geltend gemacht werden können, um die Rechtsprechung effektiver zu gestalten. Man müsse allerdings den  Missbrauchsmöglichkeiten eines solchen Systems entsprechend Rechnung tragen (Stichworte: Erfolgshonorare, pre-trial-Discovery, unpräziser Schadensbegriff). Jedes dieser letztgenannten Elemente habe - isoliert betrachtet -  eine sinnvolle Funktion, nur in ihrer  Kombination ließen sie Missbrauch zu. In Europa existierten spezifische nationale Lösungen, darunter die Gruppenklage,  Zessionsklage, Verbandsklage und Musterklage. Diese unterschiedlichen Rechtsinstrumente  führten zu einem Wettbewerb der  Standorte und  zu einem „forum shopping". Koch sprach sich für die Einführung einer europaweit gereglten Sammelklage aus; es müssten jedoch die richtigen Bedingungen dafür geschaffen werden. Im Grunde genommen führe man keine Prozessrechts-, sondern eine „begriffliche" Schadensersatzdebatte.

Den  zweiten Vortrag hielt Ulrich von Koppenfels, GD Wettbewerb. EU-Kommission, zum Thema Neuere Entwicklungen in der Fusionskontrolle. Er gab ein „Update" zu den Fusionsverfahren der Kommission, insbesondere  zu der Anzahl der Anmeldungen und der Interventionsrate, sowie einen Einblick in die „Werkstatt" aktueller Kommissionsentscheidungen. Er analysierte einzelne Fälle, z. B.  Deutsche Börse/ NYSE Euronext . Im Ergebnis sei hier der Zusammenschluss zweier Plattformen, die eine zentrale Rolle bei europäischen Finanzderivaten haben, auf der Grundlage des Kriteriums der Marktabgrenzung und nach wettbewerblicher Würdigung des Falls untersagt worden. Effizienzüberlegungen hätten zu keiner anderen Beurteilung geführt. Weiter erörtert wurden die Fälle der Übernahme von EMI durch Universal,  UTC/Goodrich (Luftfahrtausrüstung) und Western Digital/Hitachi Sorage (Festplattenlaufwerke). Schließlich berichtete v. Koppenfels von den aktuellen  Reformüberlegungen der GD Wettbewerb im Bereich Minderheitsbeteiligungen und im Hinblick auf eine  Vereinfachung der Fusionskontrollverfahren sowie über den Stand der internationalen Zusammenarbeit.

Dr. Ulrich Schnelle, Rechtsanwalt in Stuttgart, sprach über Die Praxis von Kartellbußgeldverfahren: Düsseldorf vs. Luxemburg. In seinem Vortrag stellte er das Kartellbußgeldverfahren vor einem deutschen Gericht dem Verfahren vor dem Europäischen Gericht in Luxemburg gegenüber. Schnelle erläuterte  die verschiedenen Rechtsgrundlagen, Gerichtszuständigkeiten sowie die unterschiedliche Organisationsstruktur. In Luxemburg fehle es an einer Spezialzuständigkeit der Spruchkörper für Wettbewerbsangelegenheiten. Auch die Anzahl der Verfahrensbeteiligten variiere zwischen den beiden Standorten. Bei besonders schwierigen Fällen träte auf europäischer Ebene der Generalanwalt hinzu. Im nächsten Schritt verglich Schnelle den Gang des Verfahrens am EuG und am OLG Düsseldorf und hob die Verfahrensbesonderheiten an beiden Gerichten hervor. Weiter wurden die Unterschiede beim Umfang der Nachprüfungen bzw. der Sachverhaltsaufklärung herausgearbeitet. Unter  „Einzelfragen" setzte sich Schnelle näher mit den Unterschieden beim Suspensiveffekt der Klage bzw. des Einspruchs, den Verfahrensgrundsätzen, der Beweisaufnahme, der Ablehnung von Gerichtspersonen, dem Austausch zwischen Gerichten und Betroffenen, den Rechtsmitteln sowie der „Verböserung" vertieft auseinander.

Am zweiten Konferenztag wurde die Veranstaltung mit einem Vortrag von Dr. Thomas Kramler, GD Wettbewerb, Europäische Kommission, zur „Standardisierung und EU-Kartellrecht" fortgesetzt. Kramler führte in die rechtlichen Rahmenbedingungen für Standards ein, die von Unternehmen oder Standardisierungsorganisationen gesetzt werden können. Es handele sich bei der Standardisierung zwar um Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern gemäß Artikel 101 AEUV; Interoperabilitätsgesichtspunkte und die Möglichkeit für follow-on-Innovationen seien jedoch Vorteile, die sich positiv auf den Wettbewerb auswirkten. In den Leitlinien über horizontale Zusammenarbeit sei als „safe harbour" eine FRAND-Verpflichtung zu finden,  die gewisse Mindestvoraussetzungen erfordere. Danach dürfe die Standardisierung nicht diskriminierend, sondern sie müsse offen und transparent sein; auch müsse der Zugang zum Standard für Dritte durch die FRAND-Bedingungen ermöglicht werden. Standards spielten im Rahmen von Patenten eine große Rolle. In der letzten Zeit sei ein starker Anstieg bei Patentanmeldungen und Patenterteilungen im ITK- und Pharma-Bereich zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang sei es besonders wichtig, dass die für eine Norm patentierte Technologie den Anwendern zu fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien Bedingungen zugänglich sei. Durch die Drohung mit Unterlassungsklagen könnten Patentinhaber mit standardessentiellen Patenten Forderungen durchsetzen, die ihre Vertragspartner unter normalen Umständen nicht akzeptieren würden. Die Frage, ob Standards automatisch Marktmacht begründeten, könne nicht pauschal bejaht werden. Die Antwort sei abhängig von der Wichtigkeit des Standards im Markt, abhängig von so genannte „log-ins" und möglichen Alternativszenarios. Letztlich käme es auf ein klares Regelwerk an, um den Standardisierungsprozess nicht selbst zu diskreditieren und Innovation zu verhindern.

Im Anschluss daran diskutierten Christopher Rother, Deutsche Bahn AG, und Dr. Maxim Kleine,  Oppenhoff & Partner Kön, über „Unterschiede bei follow-on-Klagen nach Entscheidungen der EU-Kommission und der nationalen Kartellbehörden". Rother, der die Sichtweise des Klägers einnahm, monierte, dass durch die Entscheidungspraxis auf EU- und nationaler Ebene follow-on-Klagen - sowohl nach Entscheidungen der EU-Kommission als auch nach Entscheidungen des Bundeskartellamts - erheblich erschwert würden. Für die Durchsetzung der Ansprüche die nationale Rechtslage am jeweiligen Gerichtsstand entscheidend. So trüge in Deutschland die Beweislast für den Schaden der Kläger. Hieraus folge eine Beweisasymmetrie, der das deutsche Recht keine Rechnung trage. Um seinen Anspruch substantiieren zu können, sei der Kläger auf die Akteneinsicht angewiesen. Die EU-Kommission verweigere jedoch eine umfassende Einsichtnahme in ihre Akten, räume dem Schutz des Kronzeugenprogramms aber uneingeschränkten Vorrang vor dem Schutz der Geschädigten ein. Problematisch sei, dass die kenntnisabhängige Verjährung bereits mit der Pressemitteilung über die Aufnahme der Fallbearbeitung beginne, der jedoch nähere Umstände nicht zu entnehmen seien. Nach Ansicht von Rother ist  die Verwaltungspraxis der EU-Kommission mit der Rechtsprechung der EU-Gerichte unvereinbar. Das Bundeskartellamt gewähre lediglich Einsicht in die um Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse bereinigten Bußgeldbescheide und in das Verzeichnis der bei der Durchsetzung der Durchsuchung sichergestellten Beweismittel. Die Entscheidungspraxis der deutschen Gerichte, die einen grundsätzlichen Vorrang des Schutzes des Kronzeugenprogramms vor dem Schutz der Geschädigten nahe lege, sei mit der Rechtsprechung der EU-Gerichte ebenfalls nicht vereinbar. Weitere Fallstricke bei der Anspruchsdurchsetzung seien die Zulassung der passing-on-defence sowie die unklare und zu kurz bemessene Verjährungsregelung. Umso wichtiger sei es für den Kläger, die „richtige" Jurisdiktion im Falle der Wahlmöglichkeit zu treffen.

Kleine nahm in der Diskussion die Perspektive des Beklagten ein und wies zunächst darauf hin, dass Kronzeugenprogramme weder auf EU-Ebene noch in Deutschland eine Rechtsgrundlage hätten. Dementsprechend seien die Pflichten des Kronzeugen unklar. Die gegenwärtige Praxis bei der Anwendung von Aktenzugangsregelungen auf Kronzeugendokumente bewege sich auf rechtlich unsicherem Terrain. Dass auch indirekte Abnehmer klageberechtigt seien, sei nach dem BGH-Urteil in Sachen ORWI zwar klar, nicht gelöst sei jedoch das daraus resultierende Risiko der doppelten Inanspruchnahme des Beklagten. Die Streitverkündung mildere jedenfalls nicht die Gefahr der doppelten Inanspruchnahme des Kartellanten. Auch sei die Bindungswirkung problematisch und ginge im Falle der Bindung von Behördenentscheidungen anderer Mitgliedstaaten zudem zu weit. Unterschiedliche Verjährungsregime führten darüber hinaus bei grenzüberschreitenden Kartellen und Schadenersatzklagen zu erheblichen Verjährungsrisiken im Gesamtschuldnerausgleich. Aus diesen Überlegungen formulierte Kleine verschiedene Reformanliegen, die sowohl die nationale als auch die europäische Ebene berührten.

Am Nachmittag wurde das Programm mit dem Vortrag von Dr. Alf-Henrik Bischke, Hengeler Mueller, Brüssel, zum Thema Minderheitsbeteiligungen zwischen deutscher und EU-Fusionkontrolle fortgesetzt. Seit 2001 beschäftige sich die Kommission mit der Frage, ob die Fusionskontrollverordnung (FKVO) auf nicht-kontrollierende Minderheitsbeteiligungen angewendet  werden solle. Derzeit sei das Thema Gegenstand der Reformüberlegungen, deren Ausgangspunkt der Fall Ryanair/Air Lingus sei. Den ersten Übernahmeversuch habe die Kommission bereits 2007 untersagt. Aktuell prüfe sie ein weiteres Übernahmeangebot des Minderheitsgesellschafters Ryanair. Es handele sich nicht um einen Fall des Kontrollerwerbs, sondern um den Erwerb weiterer Anteile, der der Kommission möglicherweise Anlass zu Wettbewerbsbedenken gäbe. Die EU-Zusammenschlusskontrolle nach der FKVO setze aber grundsätzlich den Erwerb von Kontrolle voraus. Der Erwerb einer Minderheitsbeteiligung, die keine (Mit-)Kontrolle verschaffe, stelle keinen Zusammenschluss dar. Neben dem Kontrollerwerb berücksichtige das GWB zusätzliche Zusammenschlusstatbestände, wie den Erwerb von 25 % der Stimmrechte oder des Kapitals sowie den Erwerb der Möglichkeit, einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben zu können. Das „fact-finding" für die anstehende Reform sei auf europäischer Ebene noch nicht abgeschlossen. Dabei werde es bedeutsam sein, die nationalen Rechte ebenfalls zu harmonisieren.

Als letzter Redner der Veranstaltung sprach Dr. Tobias P. Maas, GD Wettbewerb, EU-Kommission, zum Thema Arbeitsbericht der Kommission zur Technologietransfer- GVO-Novelle. Das derzeitige Regelwerk im Bereich des Technologietransfers  bilde die Verordnung (EG) Nr. 773/2004, die die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag a. F.  auf die Gruppe von Technologietransfer-Vereinigungen (TT-GVO) geregelt habe sowie die Ermächtigungsverordnung Nr. 19/65/EWG nebst den Leitlinien zum Technologietransfer. Im Zuge der Überarbeitung der TT-GVO seien bereits Konsultationen durchgeführt worden. In der ersten Konsultationsphase hätten die Kommission 37 nicht-vertrauliche Antworten erreicht. Die Mehrheit habe sich für die Beibehaltung der TT-GVO und der Leitlinien ausgesprochen, dabei aber auch punktuelle Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Die TT-GVO sollte beispielsweise anwenderfreundlicher formuliert und gekürzt werden. Derzeit werde überlegt, ob beispielsweise die Kernbeschränkungen vereinfacht werden könnten. Hinsichtlich einer Vereinfachung der Vergabe von Kreuzlizenzen wäre das Ergebnis nach wie vor offen. Bei Settlement-Vereinbarungen und Technologiepools würden keine größeren Änderungen erwartet.  Im Frühjahr 2013 werde ein erster Text zur Konsultation veröffentlicht werden.

Die After-Dinner-Speech anlässlich des traditionellen  Abendessens am Grand Place hielt Rechtsanwalt Dr. Ferdinand Hermanns, Mitglied des FIW-Kuratoriums und langjähriger „spiritus rector" der Brüsseler Informationstagung. Er berichtete in gewohnt unnachahmlicher Weise von den Anfängen der Brüsseler Informationstagung, ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart.

Im November 2013 wird die nächste  Brüsseler Informationstagung stattfinden. Die eineinhalbtägige Form wird beibehalten werden. Der genaue Termin wird rechtzeitig bekannt gegeben.

(Durch Klick auf den jeweiligen Referentennamen öffnet sich das hinterlegte Handout).