22.03.2011

Kommission veröffentlicht Auslegung zu Bußgeldleitlinien - Zahlungsunfähigkeit

Die EU-Kommission hat vor Kurzem ein Informationsschreiben vom 15. Juni 2010 veröffentlicht, in welchem es um die Auslegung der Ziffer 35 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 („Bußgeldleitlinien") geht.

Das Informationsschreiben stammt vom Vizepräsidenten der EU-Kommission und amtierenden Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia und vom Kommissar für Finanzplanung und Haushalt Janusz Lewandowski und ist an die Mitglieder der Kommission, Generaldirektoren und Dienststellenchefs gerichtet.

Wesentlicher Inhalt des Informationsschreibens:

Das Informationsschreiben fasst zunächst das generelle Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen zusammen, wie es in den Bußgeldleitlinien aus dem Jahr 2006 näher beschrieben ist. Sobald die Geldbuße festgelegt wurde, kann auf besonderen Antrag des zu bebußenden Unternehmens die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens („inability to pay") festgestellt werden und eine Ermäßigung der Geldbuße zuerkannt werden.

Ziffer 25 der Bußgeldleitlinien lautet:

„Unter außergewöhnlichen Umständen kann die Kommission auf Antrag die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens in einem gegebenen sozialen und ökonomischen Umfeld berücksichtigen. Die Kommission wird jedoch keine Ermäßigung wegen der bloßen Tatsache einer nachteiligen oder defizitären Finanzlage gewähren. Eine Ermäßigung ist nur möglich, wenn eindeutig nachgewiesen wird, dass die Verhängung einer Geldbuße gemäß diesen Leitlinien die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich gefährden und ihre Aktiva jeglichen Wertes berauben würde."

Im Informationsschreiben wird angegeben, dass die Zahl der Unternehmen, die einen solchen Antrag gestellt haben, in den letzten Jahren erheblich angestiegen sei. Auch ähnliche Anträge, gerichtet auf ein Absehen von der Erbringung einer Sicherheitsleistung im gerichtlichen Verfahren oder deren (teilweisen) Rückerstattung sowie auf den (teilweisen) Erlass des Bußgelds, seien gestellt worden.

Almunia und Lewandowski stellen klar, dass solche Anträge äußerst restriktiv gehandhabt werden müssten, um dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung zu tragen. Außerdem dürften nicht solche Unternehmen bevorzugt werden, die ineffizient, schlecht geführt und übermäßig fremdkapitalfinanziert seien. Auch müsste sichergestellt sein, dass die finanzielle Situation nicht das Ergebnis von Umgehungsbemühungen seitens der Unternehmen seien, kein Bußgeld zahlen zu müssen. Die Glaubwürdigkeit der Kommission als Organ der Durchsetzung dürfe keinesfalls auf dem Spiel stehen.

Das Informationsschreiben adressiert vier spezielle Themenbereiche, die im Zusammenhang mit Ziffer 35 der Bußgeldleitlinien in der Vergangenheit eine Rolle gespielt hätten.

1. Auslegungsfragen zu Ziff. 35 selbst einschließlich der generellen Rechtsprinzipien

Die Kommission betont, dass es keine rechtliche Verpflichtung gebe, die Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen zu berücksichtigen. Die Kommission bemisst die schwierige Beurteilung der Frage, ob durch die Geldbuße die „wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich" gefährdet wäre und die „Aktiva jeglichen Wertes" beraubt wären, anhand verschiedener Kriterien wie zum Beispiel der Kennzahlen zur Rentabilität, des Bestands des aktuellen Eigenkapitals, der möglichen Auswirkungen einer Geldbuße hierauf, sowie des Vorhandenseins unbelasteter und konkret verwertbarer Sicherheiten sowie der Liquidität und des Cashflows. Insgesamt trifft die Kommission eine Entscheidung anhand einer konkreten Insolvenzfolgenabschätzung für den betroffenen Adressaten.

Das Kriterium „Nullbestand von Aktiva" sei dagegen in der Praxis kaum anwendbar und werde von der Kommission in ständiger Verwaltungspraxis großzügiger ausgelegt, denn es gebe praktisch keine Aktiva, die überhaupt keinen Wert mehr besäßen. Es gehe eher um die Frage, ob die Aktiva erheblich an Wert einbüßten.

2. Fragen der Bußgeldermäßigung bei erfolgreichen Anträgen nach Ziff. 35.

Bei erfolgreichen Anträgen gebe es zum einen die Möglichkeit der Ermäßigung der Geldbuße (auf Null) und zum die Möglichkeit der Vereinbarung von Ratenzahlungen in Verbindung mit (ungesicherten) Bankgarantien über die noch ausstehenden Beträge. Eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten sei nur in Ausnahmefällen möglich. In der Praxis werde die Kommission in den meisten Fällen eine Ermäßigung der Geldbuße vornehmen und auf Ratenzahlungen verzichten.   

3. Fragen im Zusammenhang mit einer möglichen Bankgarantie als Sicherheitsleistung im Rahmen von Gerichtsverfahren

Bebußte Unternehmen, die ein Gerichtsverfahren anstreben, müssen entweder die Geldbuße vorläufig bezahlen (wegen der nicht aufschiebenden Wirkung der Rechtsmitteleinlegung) oder eine Bankgarantie als Sicherheitsleistung beibringen. Es sei die Frage aufgekommen, ob auch Unternehmen, die über eine genügend große Liquidität verfügten, eine Bankgarantie beibringen dürften. Auch wenn aus Sicht der Kommission die vorläufige Zahlung vorzugswürdig ist, soll gleichwohl eine gesetzliche Grundlage für ein Wahlrecht des Unternehmens geschaffen werden, um den Zustand der Rechtsunsicherheit zu beseitigen. 

4.  Möglichkeit einer nachträglichen Geldbußenermäßigung, sofern die finanzielle Situation der Unternehmen sich im Nachgang zu der Geldbußenentscheidung verschlechtert hat

Die Möglichkeit, eine nachträgliche Geldbußenermäßigung vorzunehmen, kann nur in Ausnahmefällen und nur dann in Frage kommen, wenn die Voraussetzungen für eine Zahlungsunfähigkeit nachträglich tatsächlich eingetreten sind. 

Ist die Gefährdung der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit des Unternehmens unmittelbar nach der Festsetzung der Geldbuße eingetreten soll eine gesetzliche Grundlage dafür geschafften werden, dass die Kommission von einer Sicherheitsleistung absehen kann und dem Unternehmen eine Stundung gewährt werden kann, bevor über eine weitere Ermäßigung der Geldbuße (unter den Voraussetzungen der Ziff. 35) entschieden werden kann.

Ist die wirtschaftliche verhängnisvolle Situation erst nach der Fälligkeit der Geldbuße eingetreten und hat das Unternehmen - anlässlich eines Gerichtsverfahrens - schon Sicherheitsleistungen geleistet, kann trotzdem (unter den Voraussetzungen der Ziff. 35) die Geldbuße im nachhinein erlassen oder ermäßigt werden.

Ist die wirtschaftliche verhängnisvolle Situation erst nach Rechtskraft der Geldbußenentscheidung eingetreten, kann noch eine Stundung der Geldbuße im Zusammenhang mit einer Bankgarantie (in Ausnahmefällen auch ohne Bankgarantie) vorgenommen werden.

Für diese Szenarien bedarf es auch noch einer gesetzlichen Grundlage. Eine Geldbußenermäßigung oder ein Erlass können zudem nur durch eine Entscheidung des Kommissionskollegiums erfolgen.