27.06.2011

EuGH urteilt in der Rechtssache „Pfleiderer“ zum Akteneinsichtsrecht in Kronzeugenanträge

EUGH
Schadenersatzklagen
Kronzeugenantrag
Akteneinsichtsrecht

https://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=DE&Submit=Submit&numaff=C-360/09

Der Europäische Gerichtshof hat am 14. Juni 2011 sein Urteil in der Rechtssache „Pfleiderer AG gegen Bundeskartellamt" verkündet. Es ging dabei um ein  Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Bonn, das wissen wollte, ob Kronzeugenanträge vor der Akteneinsichtnahme geschädigter Dritter geschützt sind. Das Vorabentscheidungsersuchen erging am 9. September 2009(Deutschland) zu folgener Frage:

„Sind die kartellrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts - insbesondere die Art. 11 und 12 VO Nr. 1/2003 sowie Art. 10 Abs. 2 EG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit.g EG dahingehend auszulegen, dass Geschädigte eines Kartells zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche keine Akteneinsicht in Bonusanträge und von Bonusantragstellern in diesem Zusammenhang freiwillig herausgegebene Informationen und Unterlagen erhalten dürfen, die eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde nach Maßgabe eines nationalen Bonusprogramms im Rahmen eines (auch) auf die Durchsetzung von Art. 81 EG gerichteten Bußgeldverfahrens erhalten hat?"

Hintergrund:

In dem Fall ging es darum, ob und ggf. in welchem Umfang eine nationale Wettbewerbsbehörde (Bundeskartellamt) einer geschädigten dritten Partei zum Zweck der Vorbereitung einer Schadenersatzklage wegen eines angeblich von dem Kartell verursachten Schadens Informationen offen legen kann, die der Behörde im Rahmen ihres Kronzeugenprogramms freiwillig von Beteiligten des Kartells mitgeteilt worden sind. Die Pfleiderer AG hatte beim Bundeskartellamt einen Antrag auf umfassende Einsicht in die Akten eines Bußgeldverfahrens wegen eines Kartells im Bereich Dekorpapier gestellt. Dieser Antrag bezog sich auch auf Dokumente des Kronzeugenverfahrens, um eine zivilrechtliche Schadensersatzklage vorzubereiten. Das Kartellamt hatte die Akteneinsicht auf eine um Geschäftsgeheimnisse, interne Unterlagen und Kronzeugenunterlagen bereinigte Fassung der Verfahrensakte begrenzt und keine Einsicht in die sichergestellten Beweismittel gewährt. Hiergegen hatte die Pfleiderer AG geklagt. Das Amtsgericht Bonn hielt ein Akteneinsichtsrecht gemäß § 406e Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG grundsätzlich für gegeben und ordnete an, Einsicht in die Aktenbestandteile zu gewähren, die die Kronzeugen freiwillig zur Verfügung gestellt haben sowie in die Asservate und Beweismittel.

Der Europäische Gerichtshof folgte mit seinem Urteil nicht den Schlussanträgen von Generalanwalt Mazak vom Dezember 2010, der festgestellt hatte, dass eine Wettbewerbsbehörde dem Geschädigten eines Kartells nicht zum Zweck der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche Akteneinsicht in freiwillig von Kronzeugenantragsstellern unterbreitete Erklärungen gewähren darf, mit denen diese sich selbst belasten und in denen sie ihre Beteiligung an Verstößen gegen Art. 101 AEUV gegenüber der Behörde wirksam eingestehen und beschreiben, weil dies die Attraktivität und damit die Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms der Behörde erheblich beeinträchtigen und in der Folge die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch die Behörde geführt werden könnte.

Entscheidungsgründe:

Der EuGH sieht ein Akteneinsichtsrecht grundsätzlich für gegeben, überlässt die Entscheidung und Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten jedoch der Einzelfallentscheidung der Mitgliedstaaten.

Ziffer 33 des Urteils lautet:

„Die kartellrechtlichen Bestimmungen der Union, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist."

Das Gericht weist in seiner Begründung auf die erhebliche Bedeutung von Schadenersatzklagen hin. Diese seien geeignet, die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union zu erhöhen und von vorneherein von wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen abzuschrecken (Ziffer 29). Auch sei bei der Prüfung von Ansprüchen Geschädigter auf Einsichtnahme in Kronzeugenanträge darauf zu achten, dass die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht weniger günstig als die für ähnliche innerstaatliche Rechtsbehelfe geltenden seien und nicht so ausgestaltet seien, dass sie die Erlangung eines Schadensersatzes praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten (Ziff.30). Eine Abwägung zischen den Interessen der verschiedenen Beteiligten könnten die nationalen Gerichte durchführen.

Bewertung:

Es ist nun den Mitgliedstaaten überlassen, gegebenenfalls zu regeln, welchen Schutz sie für höher erachten, den des Geschädigten oder den des Kronzeugen. Zwischen der (für die Gerichte nicht verbindlichen) deutschen Bonusregelung und § 406 e StPO, wonach ein Rechtsanwalt für den Verletzten die Akten einsehen und amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen kann, besteht nun ein Konfliktpotenzial. Es ist vorstellbar, dass im Rahmen der 8. GWB-Novelle nun Änderungen anstehen werden, um dem Schutz des Kronzeugen und damit der Bedeutung der Kronzeugenprogramme für die Durchsetzung des Kartellrechts  deutlicher Rechnung zu tragen.