22.04.2010

KOM legt vertikale Gruppenfreistellungsverordnung und Vertikalleitlinien vor

Am 20. April 2010 legte die EU-Kommission ihre neu überarbeitete Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) für Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sowie überarbeitete Leitlinien für vertikale Beschränkungen (Leitlinien) vorgelegt. Zusätzlich hat sie „Fragen und Antworten" dazu veröffentlicht. Im letzten Sommer hatte hierzu eine Konsultation stattgefunden. Die Vertikal-GVO und die Leitlinien sind für die Praxis von erheblicher Bedeutung, da sie durch ihren branchenübergreifenden Ansatz verschiedene Ebenen der Produktions- und Vertriebskette regelt und damit weite Bereiche der Beschaffung und des Vertriebs durch Unternehmen betrifft. Sie soll den Unternehmen Orientierungshilfen zur kartellrechtlichen Beurteilung ihrer Vorhaben und Verträge bieten.

Die wesentlichen Änderungen belaufen sich auf Folgende:

Es bleibt bei der Einführung einer zweiten Martkanteilsschwelle für die Seite des Abnehmers. Demnach soll eine Vereinbarung nur dann nach der Vertikal-GVO freigestellt sein, wenn nicht nur der Marktanteil des Anbieters, sondern auch der Marktanteil des Abnehmers

30 Prozent nicht überschreitet. Allerdings soll hierfür nicht mehr der nachgelagerte Verkaufsmarkt des Abnehmers in Betracht kommen, sondern nur dessen Anteil auf dem Einkaufsmarkt. An der Einführung einer

Die EU-Kommission hat klargestellt, dass es bei den Kernbeschränkungen die Möglichkeit einer Effizienzeinrede für die Unternehmen gibt (RN 47 der Leitlinien). Die EU-Kommission will bei Vorliegen einer Kernbeschränkung nur vermuten, dass Art. 81 Abs. 1 EG anwendbar ist und die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG nicht vorliegen. Diese Vermutung kann durch eine substantiiert vorgetragene Einrede der Effizienz widerlegt werden.

Auch wenn die Kernbeschränkungen selbst keine Einschränkungen erfahren haben, enthalten die Leitlinien doch einige Klarstellungen bei der Auslegung der Kernbeschränkungen. Diese betreffen sowohl den exklusiven als auch den selektiven Vertrieb. So soll bei den Kunden- und Gebietsbeschränkungen das Recht des Anbieters, in exklusive Gebiete oder an exklusive Kundengruppen zu verkaufen, die Möglichkeit unberührt lassen, exklusive Vertriebshändler vor den aktiven Verkäufen anderer Händler abzuschirmen (RN 51 LL). Ein Vertriebshändler, der ein neues Produkt einführen soll, kann von aktiven Verkäufen außerhalb des Marktes, auf dem das neue Produkt getestet werden soll, für die festgelegte Testperiode des neuen Produkts abgehalten werden (RN 62 LL). Der Abnehmer kann dazu verpflichtet werden, von einem bestimmten autorisierten Ort, d.h. von einer bestimmten Adresse, einem bestimmten Ort oder Gebiet tätig zu werden (RN 50 LL). Es besteht auch die Möglichkeit, einem Großhändler zu erlauben, an bestimmte große Endkunden direkt zu verkaufen, während er an andere Endkunden nicht verkaufen darf (RN 55 LL). Beim selektiven Vertrieb soll die Beschränkung, nicht an unautorisierte Händler im Gebiet eines selektiven Vertriebshändlers verkaufen zu dürfen, auch auf Gebiete ausgedehnt werden können, die für künftige selektive Vertriebssysteme lediglich reserviert sind, solange der Anbieter seine Produkte in diesem Gebiet nicht verkauft (RN 55 LL).

Die Preisbindung der zweiten Hand gilt nach wie vor als Kernbeschränkung, allerdings stellen die Leitlinien deutlicher als bisher heraus, unter welchen Voraussetzungen Preisbindungen der zweiten Hand in Ausnahmefällen Effizienzgewinne ermöglichen und nach Artikel 81 Abs. 3 EG zu würdigen sind. Die EU-Kommission nennt dabei ausdrückliche Beispiele für Effizienzeinreden bei der Preisbindung der zweiten Hand. Eine solche Preisbindung könne im Einzelfall hilfreich sein, um neue Produkte zu vermarkten oder verkaufsfördernde Maßnahmen zu intensivieren.

Die neue Verordnung und die dazugehörigen Leitlinien versuchen, der Bedeutung des Internets als Vertriebskanal für den Online-Verkauf und den grenzüberschreitenden Handel Rechnung zu tragen. Im Vergleich zur Entwurfsfassung hat die EU-Kommission einige Regelungen über den Vertrieb durch das Internet näher spezifiziert.

Zugelassene Vertriebshändler dürfen Produkte, die sie in ihren regulären Geschäften und Verkaufsstellen verkaufen, auch auf ihren Websites anbieten. Für selektive Vertriebssysteme bedeutet dies, dass die Hersteller den Vertriebshändlern für den Internetverkauf weder Mengenbeschränkungen auferlegen noch höhere Preise für „online" verkaufte Produkte verlangen dürfen. Außerdem ist in den überarbeiteten Leitlinien klargestellt, was im Rahmen des Alleinvertriebs unter „aktivem" und „passivem" Verkauf zu verstehen ist. Unzulässige Kernbeschränkungen sind beispielsweise Vorgaben an Vertriebshändler, Kundenkontakte außerhalb ihres Gebiets automatisch weiterzuleiten oder die Transaktion abzubrechen, wenn die Kreditkartenangaben erkennen lassen, dass sich ein Käufer in einem Gebiet befindet, das nicht zum Vertragsgebiet gehört (RN 52 LL). Ebenso gehören zu den Kernbeschränkungen Verpflichtungen, die Vertriebshändler von der Anwendung des Internets abhalten sollen, wie beispielsweise eine Begrenzung des Anteils der Internetverkäufe oder die Forderung, dass ein Vertriebshändler einen höheren Kaufpreis für Online-Produkte zahlt ("duale Preisbildung") (RN 52 LL). Allerdings können Lieferanten auch im Online-Handel einen Alleinvertrieb oder ein selektives Vertriebsnetz aufbauen, was ihnen ermöglicht, aktive Verkäufe in Exklusivgebiete oder auf Kundengruppen zu beschränken und Qualitätsnormen für die Verwendung einer Internet-Seite zu verlangen (RN 54 LL). Es ist zudem klargestellt worden, dass Vertriebsvorgaben, eine bestimmte Produktmenge auch »offline« zu verkaufen, zulässig sein können, solange der Internetvertrieb hierdurch nicht eingeschränkt wird (RN 52, 54, 56 LL). Vom Händler kann verlangt werden, ein oder mehrere Geschäftsoutlets („brick and mortar shops") einzurichten, bevor er Verkäufe über das Internet tätigt; hierüber bestand zunächst ebenfalls Unklarheit.

Dem Eigenhändler auf anderen Produktmärkten als auf den von seinem Handelsgeschäft umfassten Produkten werden - anders als im ersten Entwurf - nicht mehr die Eigenschaft und die Privilegien des Handelsvertreters abgesprochen (RN 16 - letzter Spiegelstrich der LL).

Die neue Vertikal-GVO wird am 1. Juni 2010 in Kraft treten und wird bis zum 31. Mai 2022 gültig bleiben; es ist ein Übergangszeitraum von einem Jahr bis zum 30.5.2011 für bestehende Vereinbarungen vorgesehen.