15.09.2004
Professor Hirsch (BGH): Auswirkungen der VO 1/2003 auf die Gerichtsbarkeit (Vortrag)
Deutschland
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Eigener Bericht
Professor Dr. Günther Hirsch, Präsident des Bundesgerichtshofes, referierte am 16. September 2004 auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht in Berlin über "Die Auswirkungen der VO 1/2003 auf die Gerichtsbarkeit". Es ist zu erwarten, dass seine Ausführungen im Fachschrifttum veröffentlicht werden. Vorab sind einige Punkte festzuhalten:
- Durch die VO 1/2003 haben die nationalen Gerichte neue Kompetenzen erhalten. Sie müssen insbesondere Artikel 81 Absatz 3 EU anwenden und sind daran nicht mehr durch das Freistellungsmonopol der Kommission gehindert. Während die Kartellbehörden bei der Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 aber einen Ermessensspielraum haben und die Gerichte im Kartellverwaltungsverfahren nur nachprüfen, ob dieser Spielraum richtig ausgenutzt worden ist, steht den Gerichten im Kartellzivilverfahren kein solches Ermessen zu (es gibt nicht mehrere, sondern nur eine richtige Entscheidung).
- Dies macht die Vorschrift aber nicht unjustiziabel, denn die Gerichte können sich an Leitlinien der Kommission orientieren (sie sind aber nicht für die Gerichte verbindlich), ferner kann die Kommission um Unterstützung gebeten werden (amicus curiae, Stellungnahmen zur Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts, die als sachkundige Anregungen aufzufassen sind; mündliche Stellungnahmen nur mit Zustimmung des Gerichts möglich). Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang die Gerichte auf diese Hilfe aus Brüssel zurückgreifen werden. In einigen Ländern scheint es dagegen Vorbehalte zu geben.
- Im Kartellzivilverfahren muss der Kläger die Voraussetzungen des Artikel 81 Absatz 1, der Beklagte diejenigen des Artikel 81 Absatz 3 beweisen. Für den Kläger, der als Außenstehender keinen Einblick in die Vorgänge unter den Kartellanten hat, dürfte dies schwer werden. Es fragt sich, ob nach den Grundsätzen der Sekundärbeweislast (Beweislast trägt, in wessen Sphäre die aufzuklärenden Umstände liegen) dem Kläger Erleichterungen gewährt werden können. Dies dürfte ein Problem des Einzelfalls werden. Aus praktischer Sicht ist zu erwarten, dass meist der Kläger zunächst die Vorgänge bei der Kartellbehörde anzeigen wird, die dann von Amts wegen ermitteln kann.
- Die Begriffe des Artikel 81 Absatz 3 gehören dem europäischen Recht an und müssen deshalb so ausgelegt werden, wie dies die europäischen Gerichte vorgeben. Dies gilt auch für die Auslegungsmethoden (effet utile!). Die nationalen Gerichte sollten überlegen, was sie selbst tun können, um eine einheitliche Rechtsanwendung wahrscheinlicher zu machen ("Vereinigung der europäischen Wettbewerbsrichter").
- Es ist richtig, dass der deutsche Gesetzgeber durch die GWB-Novelle den europäischen Standard auch für rein nationale Sachverhalte anwendbar macht. Dies erspart den Gerichten die Auseinandersetzung mit dem Problem der zwischenstaatlichen Auswirkungen.
- Einige Schwierigkeiten wird auch der Umgang mit den Gruppenfreistellungsverordnungen aufwerfen. Ist eine Vereinbarung von einer GFVO gedeckt, darf das Gericht nicht ohne Weiteres von der Nichtigkeit ausgehen, sondern muss prüfen, ob in diesem Einzelfall dennoch Artikel 81 Absatz 3 erfüllt ist. Unklar ist, wie es sich verhält, wenn eine Vereinbarung zwar unter eine GFVO fällt, das Gericht aber meint, sie sei dennoch nicht mit Artikel 81 Absatz 3 vereinbar.
- Zur Rechtseinheit werden die Leitlinien der Kommission beitragen, die für die Gerichte aber nicht bindend sind. Für die Vorgreiflichkeit der Entscheidung des Sachverhaltes durch die Kommission gilt die Masterfoods-Entscheidung des EuGH.
- Für den Umgang mit Entscheidungen der Kommission, die Zusagen für verbindlich erklären, gilt, dass damit nichts über einen Wettbewerbsverstoß ausgesagt wird, sondern nur der Anlass zum Einschreiten verneint wird. Damit sind die Gerichte frei, auf solche Sachverhalte Artikel 81, 82 anzuwenden. Die Rechtsprechung wird klären müssen, was zu tun ist, wenn ein Mitbewerber bezweifelt, ob eine Zusage geeignet war, die Wettbewerbsbedenken auszuräumen, und dagegen vor Gericht geht.