13.09.2004
Kommission: Ashurst-Studie über die private Rechtsdurchsetzung bei Kartellverstößen
EU
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https://www.europa.eu.int/comm/competition
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Im Auftrage der EU-Kommission hat die Anwaltskanzlei Ashurst eine umfangreiche Studie über die mitgliedstaatliche Rechtspraxis bei der Gewährung von Schadensersatz für Kartellverstöße angefertigt. Die Generaldirektion Wettbewerb arbeitet bekanntlich an einem Grünbuch über "private enforcement", das Möglichkeiten einer Harmonisierung in diesem Bereich aufzeigen wird. Die jetzt veröffentlichte Studie dient als vorbereitende Materialsammlung.
Mit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 über das Kartellverfahren ist das Prinzip der Legalausnahme eingeführt und die Anmeldung und Freistellung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen durch die Kommission abgeschafft worden. Nach dem Konzept der Kommission muss nun als Ersatz für die behördliche Überprüfung die private Rechtsdurchsetzung gestärkt und es den Geschädigten erleichtert werden, gegen Kartellanten Schadensersatzansprüche geltend zu machen und durchzusetzen. Wenn sich die Kommission dieses Bereichs annimmt, setzt sie deshalb nur fort, was mit der VO 1/2003 begonnen worden ist.
Die Ashurst-Studie trägt den Titel "Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules" und besteht aus drei Teilen:
- Dem "Comparative Report" (Waelbroeck, Slater, Even-Schoshan), einer vergleichenden Übersicht über die Rechtslage in den Mitgliedstaaten (136 Seiten, davon 13 Seiten Zusammenfassung),
- Der "Analysis of economic models for the calculation of damages" (Clark, Hughes, Wirth), einer Beschreibung der verschiedenen Methoden, die Höhe des Schadensersatzes in Kartellfällen zu berechnen (69 Seiten, davon 6 Seiten Zusammenfassung),
- 25 ausführliche Länderberichte (der Bericht über Deutschland umfasst 46 Seiten und eine Zusammenfassung von 8 Seiten, Autoren sind Wach, Epping, Zinsmeister und Bonacker).
A. Comparative Report
Der Bericht umfasst 2 Teile: eine Auswertung und Zusammenfassung der nationalen Berichte zu einzelnen Problemkreisen der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen und eine Beschreibung von Faktoren, die Schadensersatzprozesse erleichtern könnten.
1. Einzelne Problemkreise
- Generelles Urteil zur heutigen Regelung von Schadensersatzansprüchen im Kartellrecht: "astonishing diversity and total under-development".
- Rechtsgrundlage
In den meisten Ländern gilt das allgemeine Deliktsrecht. Einige haben besondere Vorschriften für Schadensersatz in Kartellfällen (§ 33 GWB). Meist sind die Vorschriften gleichermaßen auf die Verletzung nationalen und europäischen Kartellrechts anwendbar. Zuständig sind fast überall die ordentlichen Gerichte, nur in Großbritannien gibt es ein Spezialgericht (Competition Appeals Tribunal). - Klagebefugnis
Der Kläger muss überall sein Interesse darlegen, eine Spezialregelung gibt es in Deutschland: die Vorschrift muss gezielt den Kläger schützen (dies soll in der 7. GWB-Novelle geändert werden). Darüber hinaus besteht in allen Staaten die Möglichkeit einer Bündelung von Klagen, aber davon ist in der Fallpraxis kein Gebrauch gemacht worden. Sammelklagen amerikanischen Musters existieren nirgends, nur die schwedische Regelung kommt recht nahe und in Spanien gibt es Ähnliches. Verbandsklagen, besonders durch Wirtschaftsverbände, richten sich in der Praxis immer nur auf Unterlassung. - Schadensersatz, Verschulden, Kausalität
Leitprinzip ist in allen Ländern die Kompensation. Auf den erlangten Vorteil des Verletzers kommt es nicht an. Strafschadensersatz nach amerikanischem Vorbild gibt es bisher nicht.
In fast allen Ländern gilt das Verschuldensprinzip (Fahrlässigkeit), aber nicht selten gemildert durch eine Verlagerung der Beweislast (Verstoß indiziert Verschulden oder führt zu einer Vermutung). Das Beweismaß ist unterschiedlich und reicht von einer Abwägung der Wahrscheinlichkeiten bis zur vollständigen Überzeugung des Gerichts.
Überall muss die Kausalität zwischen Verstoß und Schaden bewiesen werden, aber auch hier gibt es mitunter Beweiserleichterungen, ebenso beim Beweis des Schadensumfangs (Schätzung möglich). Es gibt nur wenige Fälle zur passing-on-Verteidigung (Deutschland, Dänemark, Italien: Verteidigung bejaht). - Beweismittel
In 18 Ländern existieren keine Beschränkungen, in anderen werden die zulässigen Beweismittel listenmäßig aufgezählt. Überall werden Zeugnisverweigerungsrechte respektiert, besonders die Wahrung von Berufs- und Geschäftsgeheimnissen. Eine pre-trial-discovery findet nur in Großbritannien, Irland und Zypern statt, in anderen Ländern kann jedoch das Gericht umfangreiche Dokumentenvorlagen anordnen (Polen, Spanien). Ansonsten müssen die Dokumente, die eine Partei vom Gegner verlangt, mehr oder weniger deutlich bezeichnet werden. Auch hier gibt es Weigerungsrechte, etwa das Anwaltsprivileg. - Bindungswirkung von Entscheidungen der Gerichte und der Kartellbehörden
Die Vorlage von Entscheidungen als Beweismittel ist überall zulässig. Die geplante deutsche Regelung, wonach deutsche Gerichte an die Entscheidungen aller anderen europäischen Gerichte und Kartellbehörden gebunden sind, wird als Ausnahmefall erwähnt. Faktisch folgen die nationalen Gerichte im Ergebnis ihren eigenen Kartellbehörden und den Entscheidungen der Kommission. - Andere prozessuale Fragen
Die Verjährung der Ansprüche beträgt zwischen einem Jahr und 30 Jahren, allerdings mit vielfältigen Vorschriften über die Hemmung und Unterbrechung der Verjährung. Die Verfahrensdauer liegt zwischen 6 Monaten und 10 Jahren (bei Ausschöpfung aller Rechtsmittel). Einige Länder kennen beschleunigte Verfahren. Auch die Möglichkeit von Teilurteilen besteht häufig. Überall trägt der Verlierer die Kosten des Prozesses, Erfolgshonorare sind fast überall nicht erlaubt.
2. Faktoren für eine Erleichterung der Rechtsverfolgung
- Einfacherer Zugang zu den Gerichten (auch durch Sammelklagen und Verbandsklagen),
- Verringerung des Prozessrisikos (klare Vorschriften, spezialisierte Gerichte, Mitwirkung der Kartellbehörden im Verfahren),
- Beweiserleichterungen (Absenkung des Beweismaßes, Beweislastumkehr etwa bei Kausalität und Verschulden, verschuldensunabhängige Haftung),
- Besserer Zugang zu Beweismitteln (discovery, Anordnung der Dokumentenvorlage durch das Gericht),
- Einfachere Schadensberechnung (dazu bringt die zweite Studie Überlegungen; Schadensschätzung, Orientierung an den erlangten Vorteilen des Verletzers, Bindung an Entscheidungen von Gerichten und Kartellbehörden),
- Verminderung des Kostenrisikos (Aufweichung des Grundsatzes der Kostenerstattung durch den Verlierer, Zulassung von Erfolgshonoraren, Verfahrensbeschleunigung),
- Andere Anreize (mehrfacher oder Strafschadensersatz, Abschöpfung der Vorteile des Verletzers),
- Transparenz und Öffentlichkeit (bessere Aufklärung über die Klagemöglichkeiten).
B. Analysis of Economic Models for the Calculation of Damages
In einem besonderen Bericht behandelt die Studie die Schadensberechnung als eines der schwierigsten Probleme der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht. Zunächst wird festgestellt, dass es verschiedene Gruppen von Geschädigten gibt:
- die unmittelbaren Abnehmer,
- die weiteren Abnehmer in der Verteilerkette bis hin zum Endverbraucher,
- Abnehmer von Nichtmitgliedern des Kartells, die als Folge des Kartells ebenfalls ihre Preise angehoben hatten,
- Käufer, die wegen des hohen Preises des kartellierten Produktes auf andere, weniger passende oder brauchbare Produkte ausgewichen sind,
- Zulieferer der Kartellanten, die Schäden erleiden, wenn das Kartell seine Produktion zurückfährt,
- Produzenten von Gütern, die zu den kartellierten Produkten komplementär sind, wenn der höhere Kartellpreis den Absatz senkt.
Um den Schaden zu berechnen, muss der Ist-Zustand mit dem hypothetischen Zustand verglichen werden, der sich ohne das Kartell ergeben hätte. Diesen Zustand ("but for" scenario) kann man auf verschiedene Weise ermitteln, wobei sich die Studie hauptsächlich auf Modelle aus der amerikanischen ökonomischen Literatur stützt, denn das Fallmaterial in Europa ist für eine solche Bestandsaufnahme nicht ausreichend:
- "before and after approach": Vergleich der Kartellpreise mit den Preisen, die sich vorher am Markt gebildet hatten,
- "yardstick approach": Vergleich des kartellierten Marktes mit einem ähnlichen Markt ohne Kartell,
- "cost-based approach": die Stückkosten der Kartellanten werden ermittelt und ein üblicher Gewinnzuschlag hinzugerechnet,
- "price prediction approach": eine ökonometrische Methode, die aus den nicht-kartellierten Preisen der Vergangenheit den wegen des Kartells nicht zustande gekommenen Wettbewerbspreis berechnet,
- "theoretical modelling (simulation) approach": es wird ein Oligopol-Modell benutzt, um die Wirkungen eines Kartells abzubilden.
Diese Methoden können verwendet werden, wenn der Schaden aus Preiskartellen berechnet werden soll. Andere Ansätze werden vorgeschlagen, wenn es um Schäden geht, die durch einseitiges Verhalten (Missbrauch marktbeherrschender Stellung) einem anderen Marktteilnehmer zugefügt worden sind. Hier hat der Geschädigte meist Geschäftsanteile verloren (durch Koppelung, Preismissbrauch usw.):
- "earnings-based approach",
- "markets-based approach",
- "assets-based approach".
Der Grundgedanke besteht darin, dass man aus den Umsätzen, dem Börsenkurs oder der Bilanz abschätzt, welche Geschäftsentwicklung sich bei dem Verletzten ohne den Verstoß voraussichtlich ergeben hätte.