05.10.2004
Bundeskartellamt: Professorenkonferenz diskutiert Verbraucherinteressen im Wettbewerb
Deutschland
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https://www.bundeskartellamt.de
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Am 27. September 2004 tagte im Bundeskartellamt dessen Arbeitskreis Kartellrecht, dem insbesondere Wissenschaftler und Richter der Kartellgerichte angehören ("Professorenkonferenz"). Gäste aus der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission waren diesmal Generaldirektor Philip Lowe und Chefökonom Professor Lars-Hendrik Röller.
Man erörterte in diesem Jahr das Thema "Wettbewerbsschutz und Verbraucherinteressen im Lichte neuerer ökonomischer Methoden". Das Bundeskartellamt hatte dafür ein Diskussionspapier vorbereitet (30 Seiten, auf der Website abrufbar), dessen Inhalt hier kurz beschrieben wird:
Einleitung
Es wird eine bessere ökonomische Absicherung kartellrechtlicher Entscheidungen gefördert. Man erwartet davon eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der Verbraucher. Im angelsächsischen Rechtskreis wird dieser Ansatz bereits seit einiger Zeit praktiziert:
- Nach dem wohlfahrtsorientierten Ansatz ist Wettbewerb nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Wohlfahrtssteigerung, worunter meist die Konsumentenwohlfahrt (consumer welfare), aber auch die Gesamtwohlfahrt (total welfare) verstanden wird. Frage: Führt der Eingriff der Kartellbehörde zu einem höheren Nutzen für die Verbraucher als die Duldung des Verhaltens? Dies erfordert eine Prognose, bei der auch Effizienzgesichtspunkte eine große Rolle spielen.
- In Deutschland wird der Wettbewerb als Institution geschützt. Es werden Verhaltensweisen oder Strukturveränderungen verboten, die abstrakt als wettbewerbsfeindlich definiert werden. Konkrete nachteilige Folgen müssen nicht nachgewiesen werden. Auch dieses Schutzkonzept verfolgt letztlich die Wahrung der Interessen der Verbraucher.
Welcher Ansatz ist aus Konsumentensicht besser? Kann "consumer welfare" benutzt werden, um mehr Zurückhaltung der Kartellbehörden zu erreichen? Ist der wohlfahrtstheoretische Weg vorzuziehen oder kann man auch mit dem deutschen Konzept, das ebenfalls ökonomische Aspekte berücksichtigt, einen wirksamen Wettbewerbsschutz sicherstellen?
Fusionskontrolle
Im Mittelpunkt steht heute die Oligopoltheorie: Wann ist mit einer kooperativen Strategie der Marktteilnehmer zu rechnen? An den Nachweis stellt die Rechtsprechung zunehmend höhere Anforderungen.
Zur Verbesserung der Entscheidungen werden heute verschiedene Instrumente benutzt:
- Preiskorrelationsanalysen: Güter mit ähnlicher Preisentwicklung können zu einem gemeinsamen Markt gehören,
- Preiselastizitätsanalysen: Marktabgrenzung mit Hilfe des SSNIP-Tests (hypothetischer Monopolist erhöht seine Preise um 5 bis 10 Prozent),
- Simulationsmodelle zur Berechnung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses: Probleme ergeben sich aus der Auswahl der Wettbewerbsparameter, der Ermittlung und der Qualität der Marktdaten, der Berücksichtigung von Verhaltensänderungen aufgrund der Fusion (Übergang zu kooperativem Verhalten), dem hohen Aufwand und dem engen Zeitrahmen der Fusionskontrolle.
Durch Zusammenschlüsse können Effizienzvorteile entstehen. Produktive Effizienzen lassen die Grenzkosten sinken und bieten damit einen Anreiz zu Preissenkungen. Nach der Theorie der unilateralen Effekte kann aber auch das Gegenteil eintreten.
Manche Länder sehen ausdrücklich eine Prüfung dieser Effekte im Einzelfall vor (USA, Australien, Großbritannien, Irland und Neuseeland). Dabei wird meist nach den Auswirkungen auf die Konsumentenwohlfahrt gefragt. Es kommt zu einer Abwägung von Vorteilen und Nachteilen der konkreten Fusion.
Effizienzgewinne sind nicht einfach zu bewerten:
- Sie müssen konkretisiert werden können (horizontale Leitlinien der Kommission: fusionsspezifisch, überprüfbar, den Nachfragern zugute kommend),
- Je größer die Nachteile einer Fusion sind, desto größer müssen die Effizienzvorteile sein (sliding scale),
- Die Weitergabe der Vorteile an die Konsumenten hängt davon ab, wie groß der nach der Fusion verbleibende Wettbewerbsdruck ist,
- Die Verifizierung innerhalb des fristgebundenen Fusionskontrollverfahrens ist nicht einfach,
- Effizienzen, die nicht auf Preise oder Mengen bezogen sind, lassen sich kaum bewerten (größere Möglichkeiten für Innovationen),
- Wo Preise für die Verbraucher eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Analyse von Effizienzen ebenfalls nicht einfach (Hochtechnologie, Gesundheitssektor, Medienbereich),
- Weitgehend ungelöst ist auch das Monitoring, die Prüfung der tatsächlichen Weitergabe von Vorteilen.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es keine Entscheidungen in den genannten Ländern gibt, wo es den Unternehmen vor Gericht gelungen wäre, eine Fusion mit Effizienzvorteilen zu rechtfertigen.
In Deutschland gibt es keine ausdrückliche Effizienzeinrede. Sie wird bei unserem Konzept der Marktbeherrschung auch nicht vermisst. Unterhalb der Schwelle wird pauschal unterstellt, der Wettbewerb stelle die Realisierung von Effizienzgewinnen sicher, oberhalb der Schwelle ist eine solche Einrede nicht möglich, denn da der Verhaltensspielraum des neuen Unternehmens nicht mehr hinreichend durch Wettbewerb kontrolliert wird, braucht das Unternehmen Vorteile letztlich auch nicht weiterzugeben.
Eine Ähnlichkeit mit der Effizienzanalyse hat die Abwägungsklausel des § 36 Absatz 1 GWB: Eine Untersagung kann abgewendet werden, wenn die Fusion nachweislich die Wettbewerbsbedingungen auf einem anderen als dem vom Zusammenschluss betroffenen Markt verbessert.
Ein Vergleich der stärker auf Effizienzen abstellenden mit der deutschen Fusionskontrolle ist spekulativ. Es fehlt an Fallmaterial. Ob ein Übergang zum amerikanischen Modell einen "Qualitätssprung" der Entscheidungen herbeiführen würde, ist fraglich.
Unstreitig ist hingegen, dass mehr Ökonomie in die Entscheidungsfindung einfließen sollte. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie. Die Monopolkommission hat die Einrichtung eines ökonomischen Grundsatzreferates beim Bundeskartellamt vorgeschlagen.
Kartelle
Beim Aufspüren von hard-core-Kartellen eröffnen ökonomische Methoden neue Möglichkeiten:
- Beweis eines Anfangsverdachts durch ökonomische Analysen (Beispiel: DSD-Leistungsverträge),
- Bonusregelung, die auf spieltheoretischen Überlegungen basiert,
- Mehrerlösabschöpfung erfordert eine ökonomische Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises, der dem Kartellpreis gegenüberzustellen ist.
Von zentraler Bedeutung für die Verbraucherinteressen sind aber die Freistellungsmöglichkeiten nach Artikel 81 Absatz 3 EU und § 2 GWB-E. Hier wird ausdrücklich gefordert, dass Effizienzgewinne entstehen und die Verbraucher daran beteiligt werden:
- Bei horizontalen Vereinbarungen können Skalenerträge zu Kosteneinsparungen führen,
- Bei vertikalen Verträgen können sich Effizienzen durch Absicherung von Investitionen ergeben (Ausschaltung von free-riding oder holding-up).
Die einheitliche Regelung horizontaler und vertikaler Beschränkungen durch Artikel 81 EU und 1, 2 GWB-E darf nicht die unterschiedlichen ökonomischen Bewertungen verdecken.
Ähnlich wie bei Fusionen sind auch hier die Bewertungen der Effizienzen mitunter sehr schwierig, zumal solche Gewinne oftmals einer gewissen Dynamik unterliegen. Es fragt sich, ob ein stärker effizienzbezogener Ansatz nicht zu geringerer Rechtssicherheit (System der Legalausnahme) und dadurch zu mehr Kosten führen würde.
Missbrauchsaufsicht
Die Kommission erörtert mit den Mitgliedstaaten eine Ausweitung ökonomischer Methoden bei der Anwendung von Artikel 82 EU:
- In der EU gilt der Grundsatz, dass marktbeherrschende Unternehmen eine besondere Verantwortung für den Wettbewerb haben. In den USA wird hingegen gefragt, welchen Einfluss ein Unternehmen mit Marktmacht (market power) auf die Wettbewerbsstruktur konkret ausüben kann.
- Das Verbot des Behinderungsmissbrauchs ist grundsätzlich auf die Mitbewerber bezogen, die Verbraucher profitieren davon aber indirekt.
- Die Entscheidung Michelin II und BA / Virgin des EuGH haben praktisch zu einem Verbot von Treue- und Zielrabatten eines Marktbeherrschers geführt (Sogwirkung behindert die Konkurrenten). Kritisiert wird, dass die tatsächlichen Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation nicht untersucht werden. Man dürfe auch nicht nur die Kostenseite der Rabatte betrachten, sondern müsse den gesamten wirtschaftlichen Kontext in den Blick nehmen, um Effizienzgewinne richtig würdigen zu können. Dem wird entgegengehalten, dass ein solcher Nachweis von Effizienzen nicht zu führen sei. Schließlich diene ein per-se-Verbot auch der Rechtssicherheit.
- Beim Preismissbrauch (predatory pricing) sind ökonomische Überlegungen seit jeher angewendet worden. Nach EU-Recht (Fall Akzo) beweisen Preise unterhalb der durchschnittlichen variablen Kosten eine Verdrängungsabsicht, während bei Preisen unterhalb der totalen Durchschnittskosten weitere Nachweise erbracht werden müssen. Kritisiert wird, dass dies dem ökonomischen Kontext im Einzelfall nicht immer gerecht wird und dass nicht berücksichtigt wird, ob es dem mit Kampfpreisen arbeitenden Unternehmen gelingen wird, seine dadurch erlittenen Verluste später wieder zu kompensieren (dies will die Kommission aber durch ein Verbot von "Preishöhenmissbrauch" verhindern).
Gerade hier ist aus Verbrauchersicht der niedrige Kampfpreis zunächst günstig, der möglicherweise später höhere Preis dann allerdings nicht mehr.
- Produktkoppelungen sind missbräuchlich, wenn der Marktbeherrscher dadurch seine Position auf dem Markt des gekoppelten Produktes verbessern will (leverage). Auch hier wird kritisiert, dass die Koppelung zu Kostensenkungen führen könne, dass die Preissenkungen weitergegeben werden könnten und dass der Erwerb des Koppelproduktes für den Verbraucher günstig sein könnte (Fall Microsoft). Aber diesen "Bequemlichkeitseffekten" steht gegenüber, dass mittelfristig Wettbewerber verdrängt werden können und dies am Ende dem Verbraucher schadet.
- Das Verbot des Ausbeutungsmissbrauchs schützt unmittelbar die Marktgegenseite, also auch den Verbraucher. Häufigster Fall ist der Preishöhenmissbrauch, vor allem in Monopolbereichen wie Energienetzen oder beim Einsatz von Patenten und Urheberrechten, wenn Konkurrenten dadurch keine ausreichenden Möglichkeiten haben, mit niedrigeren Preisen zum Zuge zu kommen, und die Nachfrage unelastisch ist.
Ökonomische Instrumente sind hier das Vergleichsmarktkonzept und die Kostenkontrolle, was aber eine erheblich größere personelle Ausstattung der Kartellbehörden voraussetzt.
In der Diskussion um Effizienzen herrscht die mittelfristige Betrachtungsweise vor, bei der die Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Wettbewerber entscheidend sind. Dass sich kurzfristig Vorteile für den Verbraucher ergeben (Rabatte, Kampfpreise) wiegt nicht so schwer. Es ist fraglich, ob diese Vorteile die langfristigen Nachteile überhaupt aufwiegen können. Würde man stärker auf den Einzelfall abstellen, gefährdete man dann nicht die Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und gerichtliche Handhabung? Werden die Kartellbehörden dadurch nicht überfordert? Sollte man deshalb nicht an (möglicherweise etwas geänderten) per-se-Regeln festhalten?
Fazit (wörtliche Wiedergabe)
Der "more economic approach" mit einer ausgeprägten Berücksichtigung von ökonomischen Modellen und ökonometrischen Methoden führt bei der Beurteilung von Zusammenschlüssen, Wettbewerbsbeschränkungen und missbräuchlichen Verhaltensweisen zu einer stärkeren Einzelfallbetrachtung. Diese Einzelfallbetrachtung ermöglicht die Berücksichtigung konkreter wettbewerblicher Wirkungsmechanismen auf dem betroffenen Markt, um damit der wirtschaftlichen Praxis näher zu kommen.
Ob eine ressourcenaufwändige Einzelfallbetrachtung im Ergebnis auch zu einer größeren Einzelfallgerechtigkeit als der bisherige Ansatz führt, erscheint offen.
Denn ökonomische und ökonometrische Methoden können zwar Antworten auf präzise gestellte Einzelfragen liefern, nicht aber die wettbewerbliche Gesamteinschätzung vorwegnehmen oder gar ersetzen. Und die mathematisch anmutende Exaktheit insbesondere ökonometrischer Methoden darf nicht über die fortbestehende Unsicherheit bei ökonomischen Prognosen, Erwartungen und Angaben hinwegtäuschen.
Andererseits können die neueren Theorien und Instrumente eine wertvolle Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung sein und gegebenenfalls zu einer Verbesserung der Entscheidungsqualität beitragen.
Diskussionswürdig ist, ob nicht mit einer stärkeren ökonomischen Einzelfallbetrachtung die Zielvorstellung verbunden sein sollte, geltende gesetzliche Vermutungen und per-se-Regeln an den Ergebnissen einer ökonomischen Einzelfallbetrachtung zu überprüfen und letztlich zu bestätigen, zu verfeinern oder neue per-se-Regeln zu entwickeln.
Die Abkehr von per-se-Regeln und von einem legalistischen Ansatz birgt auch Gefahren. Rechtssicherheit, die Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips durch klare wettbewerbliche Standards und die Praktikabilität einer intensiveren ökonomischen Einzelfallprüfung durch Behörden und Gerichte sind gewichtige Argumente in der Waagschale.
Die Diskussion über die Frage, wie ökonomisch eine Wettbewerbsbehörde ausgerichtet sein muss oder sein sollte, ist in vollem Gange. Sie muss sorgfältig und ausgewogen geführt werden, um das beste Ergebnis für den Wettbewerb zu erzielen.