23.09.2002

Hanns Peter Nehl: Europäische Pressemärkte im Lichte des EG-Wettbewerbsrechts

Dr. Nehl ist in der Abteilung Medien und Musikverlage der Generaldirektion Wettbewerb tätig. Er hat am 1. Februar 2002 in Hannover über „Europäische Pressemärkte im Lichte des EG-Wettbewerbsrechts" referiert. Der Text ist erst jetzt im Internet veröffentlicht.

Auf der einen Seite gibt es noch keine europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation und gesamteuropäische Willensbildung sind schwierig. Auf der anderen Seite ist die Presse für den Gebrauch des Grundrechts auf Informationsfreiheit unverzichtbar. Dafür ist Wettbewerb der beste Garant.

In der Fusionskontrolle besteht auf nationaler Ebene die Tendenz, Pressezusammenschlüsse freizugeben. Allenfalls Fachpublikationen in Nischenmärkten sind von Auflagen-Entscheidungen oder Untersagungen betroffen. Auch die Merger Task Force hat die meisten Pressefusionen gebilligt. Wichtig ist die Entscheidung „Financial Times Deutschland" von 1999 (FT/Gruner + Jahr), die Gelegenheit bot, die Kriterien der Marktbeherrschung auf Pressemärkten näher zu bestimmen. Dabei geht die Kommission wie auch in anderen Bereichen vom Bedarfsmarktkonzept (Nachfragesubstituierbarkeit) aus. Für Lesermärkte gilt dabei:

* Ein eigenständiger sachlicher Produktmarkt für Tageszeitungen, abzugrenzen vom Markt für Wochen- und Monatszeitschriften;

* Der Markt für Tageszeitungen ist wiederum zu unterteilen anhand des Inhalts (z.B. generelle Information, Sport, Finanzen) oder der Qualität des jeweiligen Blatts (z.b. politische Information, Boule-vardblatt). In qualitativer Hinsicht bestehen z.T. fließende Übergänge (die britische OFT geht daher sogar von einem einheitlichen sachlichen Produktmarkt für Tageszeitungen aus, vgl. OFT Konsultationspapier, Januar 2002, Rz. 2.3).

* Die Abgrenzung der sachlich relevanten Anzeigenmärkte erfolgt häufig parallel zu der Abgrenzung der zugehörigen Lesermärkte. Teilweise wird aber auch ein weiterer Markt angenommen, falls die Substituierbarkeit aus der Sicht der Werbeindustrie (der Nachfrager von Anzeigenwerbung in Zeitungen) dies erfordert.


Die Angebotssubstituierbarkeit ist dagegen bei berufsbezogenen und akademischen Fachpublikationen wichtig. Würde man dort auf die Nachfrage abstellen, führte dies zur Definition von Splittermärkten (Markt für Fachliteratur zum Erb- und Schenkungsrecht) mit der Folge der Marktbeherrschung, was lebensfremd wäre.

Bei der Anwendung der Kartellvorschriften Artikel 81 und 82 EUV ist die Freistellungsverordnung über vertikale Wettbewerbsbeschränkungen von 1999 einschlägig, besonders für die im Pressesektor weit verbreite-ten selektiven oder Alleinvertriebssysteme. Bei diesen Systemen ist zu unterscheiden:

* Alleinauslieferung (d.h. Beauftragung durch den Verlag eines Grossisten zur Alleinauslieferung in einem bestimmten Territorium);

* Remissionsrecht (d.h. Rückgaberecht des Händlers bzw. Rücknahmepflicht des Grossisten/Verlages bezüglich nicht abgesetzter Exemplare gegen Gutschrift zum Einkaufspreis auf allen Handelsstufen);

* Vertikale Preisbindung (d.h. Festlegung der Abgabepreise im Groß- und Einzelhandel inklusive Endverkaufspreise durch die Verlage, vgl. § 15 GWB);

* Dispositionsrecht (d.h. Recht des Verlags und - abgeleitet - des Grossisten zur Festlegung von Auflage, Absatz- bzw. Abnahmemenge auf allen Handelsstufen);

* Gebiets- und Verwendungsbindung (d.h. Bindung von Grossisten und Einzelhändlern an die vom Verlag/Grossisten vorgegebenen territorialen Grenzen für den Vertrieb).

Die Kommission erkennt die Effizienzen dieser Systeme durchaus an, stellt aber an die Struktur der Vertriebssysteme bestimmte Anforderun-gen (Auswahl von Wiederverkäufern nach qualitativen Kriterien, die einheitlich und diskriminierungsfrei gehandhabt werden).

Als problematisch sieht die Kommission den Gebietsschutz an. Sie wird zunehmend mit Beschwerden von Verbrauchern konfrontiert, die sich über erhebliche Preisunterschiede innerhalb der EU beklagen. Besonders in grenznahen Regionen stößt dies auf wenig Verständnis.

Missbrauch von Macht kann im Pressesektor besonders die Form diskriminierender oder exzessiver Preise oder von Kampfpreisunterbietungen annehmen. Den Zugang zu einem Vertriebssystem als essential facility hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil „Oscar Bronner" verneint.