01.08.2002

20 Jahre Merger Guidelines

USA
Fusionskontrolle
Merger Guidelines

www.usdoj.gov/atr

Im Juni 1982 veröffentlichte die Antitrust Division des amerikanischen Justizministeriums neue Merger Guidelines. Chef der Behörde war damals Bill Baxter, dem 20 Jahre später sein Nachfolger Charles James attestiert, einen revolutionären Schritt unternommen zu haben, der zu einer realistischeren Beurteilung von Zusammenschlüssen geführt und weit über die USA hinaus Wirkungen hervorgerufen hat. Dies ergibt, wie Mr. James in einer kurzen Ansprache zum Jubiläum ausführte, besonders der Vergleich mit der Praxis vor 1982, die weitgehend auf formelle Elemente abstellte. Der Regierung unter Präsident Reagan sei damals der Vorwurf „einseitiger Abrüstung der Kartellbehörden" gemacht worden, aber die Unbegründetheit habe sich in den letzten beiden Jahrzehnten eindeutig erwiesen. So hätten auch die Revisionen von 1984 (erstmals mit der FTC) 1992 (unter Jim Rill) und 1997 nur Vereinfachungen bewirkt, nicht aber die neuen Grundsätze in Frage gestellt.

Aus Anlass des Jubiläums hat das Department of Justice vier teils umfangreiche Aufsätze publiziert, in denen nachgezeichnet wird, wie die Guidelines von 1982 die Analyse von Zusammenschlüssen und darüber hinaus die Beurteilung auch anderer Wettbewerbsprobleme verändert haben. Sie befassen sich mit


 

William Kolasky, Andrew Dick:
The Merger Guidelines and the Integration of Efficiencies into Antitrust Review of Horizontal Mergers


Der Artikel ist aus europäischer Sicht hochinteressant, weil die Europäische Kommission in ihrem Grünbuch zur Reform der Fusionskontrolle eine Diskussion über eine stärkere Berücksichtigung von Effizienzen bei der Beurteilung von Zusammenschlüssen angekündigt hat. Auch in den USA war dies ein Prozess, der sich über mehrere Jahrzehnte hingezogen hat. Dies kann uns als Hintergrund für die eigenen Überlegungen dienen.

Die Autoren unterscheiden vier Arten von Effizienzen: allokative (eine Ressource muss dem wertvollsten Gebrauch zugeführt werden), produktive (Güter sollten mit minimalem Aufwand an Ressourcen hergestellt werden), dynamische (Innovationswettbewerb) und Transaktionseffizienzen. Dafür werden in einem Anhang die ökonomischen Rechtfertigungen gegeben.

Die frühe Rechtsprechung des Supreme Court beurteilte Fusionen im Wesentlichen nach der Zahl der Marktteilnehmer und ihren Marktanteilen. Dafür waren recht niedrige Schwellenwerte maßgebend. Im Zweifelsfall war der Schutz des Wettbewerbs wichtiger als Effizienzen. Der Aufrechterhaltung von fragmentierten Märkten wurde der Vorzug gegeben. Kein Zusammenschluss, der den Wettbewerb erheblich beeinträchtigte, sollte durch Effizienzen gerettet werden können (Brown Shoe 1962, Philadelphia National Bank 1963, Procter & Gamble 1967). Die Merger Guidelines von 1968 (Turner, Williamson) legten fest, dass Zusammenschlüsse „in außergewöhnlichen Umständen" durch Effizienzen gerechtfertigt werden könnten. Dies war das Konzept der Harvard School. Die Chicago School (Posner, Bork) lehnte dieses Konzept ab, weil Effizienzen kaum zu kalkulieren seien und eine Quelle von Rechtstreitigkeiten bilden würden, und trat hingegen für höhere Schwellenwerte ein. Der Supreme Court ließ Effizienzen als Verteidigung gegen den ersten Anschein zu hoher Marktanteile zu (General Dynamics 1974).

Die Merger Guidelines von 1982 (Bill Baxter) gaben der Chicago School Recht, indem die Werte für Marktanteile und die Konzentration eines Marktes erhöht wurden, bauten aber auch die Lehre von den Efficiencies aus und gaben dafür vier Kriterien: klare Beweisbarkeit, beträchtliche Kosteneinsparungen, Effizienzen bereits in der Branche praktiziert und nicht erzielbar durch inneres Wachstum oder eine weniger beeinträchtigende Art des Zusammenschlusses. Die FTC schloss sich diesem Konzept im Wesentlichen an.

Die Änderungen von 1984 (Paul McGrath) bauten weiterhin auf dem Harvard-Konzept auf. Effizienzen waren nicht mehr Verteidigungsmittel, sondern schon in die Beurteilung der Wettbewerbswirkungen eines Zusammenschlusses einzuziehen. Dafür gilt eine gleitende Skala: je größer die wettbewerblichen Risiken eines Zusammenschlusses sind, desto ausgeprägter müssen die rechtfertigenden Effizienzen sein. Die Änderungen von 1992 (Jim Rill) fügten dem wenig hinzu, sondern machten klar, dass es sich bei den Effizienzen nicht um ein Problem der Beweislast, sondern der Gesamtbeurteilung eines Fusion handele.

Die Änderungen von 1997 brachten eine Bestätigung der geübten Praxis. Sie gelten noch heute:


Der Supreme Court hat seit vielen Jahren nicht mehr über einen Zusammenschluss entscheiden müssen, aber aus anderen Entscheidungen hat man entnommen, dass er dieses Konzept nicht grundsätzlich in Frage stellen würde. Hingegen gibt es zahlreiche Urteile von circuit courts und district courts zu den Richtlinien.

Abschließend wird ein Blick auf den internationalen Einfluss geworfen, den die amerikanische Praxis bislang ausgeübt hat. Zur Europäischen Union wird Artikel 2 Abs. 1 b FKVO angeführt, der an sich eine Einbeziehung von Effizienzen erlaubt. Die Kommission betrachtet aber Effizienzen nicht als Verteidigung, sondern eher als Angriff auf die Wettbewerber (offense). Dafür werden die Fälle de Havilland 1991 und GE/Honeywell 2001 angeführt. Sie sind getragen von der Furcht, die Effizienzen könnten es dem neuen Unternehmen ermöglichen, durch Preisunterbietung Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. Das Umdenken im Grünbuch ist in dem Aufsatz noch nicht erwähnt.



Gregory Werden:
The 1982 Merger Guidelines and the Ascent of the Hypothetical Monopolist Paradigm


Der Artikel behandelt die Bestimmung des relevanten Marktes mit Hilfe (theoretischer) Preiserhöhungen durch einen Monopolisten. Der Test geht auf ältere wissenschaftliche Arbeiten zurück (Adelman, Sullivan, Areeda and Turner) und ist schließlich in die Merger Guidelines von 1982 übernommen worden.

Ausgangspunkt ist die Frage, ob ein Marktanteil von 100 % dem Inhaber Marktmacht verleiht. Dies ist dann nicht der Fall, wenn Preiserhöhungen Lieferungen „von draußen" anziehen würden. Dies können Lieferungen aus anderen Gebieten sein, die jetzt profitabel werden, vor allem aber Lieferungen von Substitutionsprodukten. Erst wenn Preiserhöhungen keine solche Lieferungen mehr anziehen, ist der Umfang des Marktes bestimmt. Dabei hat sich eine gedankliche Preiserhöhung von 5 bis 10 % (Areeda/Turner) als Maßstab durchgesetzt.

In den Guidelines findet man dann die heute bekannte Formel von den „small but significant and non-transitory increases in price", kurz als SSNIP-Test bezeichnet.

Die FTC hat sich dem erst nach anfänglichem Zögern 1992 formell angeschlossen. Inzwischen ist der Test international in vielen Ländern üblich. Auch die Mitteilung der Europäischen Kommission über die Bestimmung des relevanten Marktes von 1997 beruht darauf.

Am Schluss wird die Anwendung durch verschiedene US District Courts dargestellt, was der europäische Leser vielleicht eher vernachlässigen kann (in einem Anhang werden die Präjudiz-Fälle ausführlich zitiert).



Jonathan Baker:
Responding to Developments in Economics and the Courts: Entry in the Merger Guidelines


Der Marktzutritt neuer Wettbewerber kann die Bedenken gegen einen Zusammenschluss ausräumen. Der Artikel beschreibt, wie dieses Problem in den Merger Guidelines (Änderungen von 1992) behandelt wird, wie die Diskussion vorher verlief und wie seither die Praxis in den USA aussieht.

Zunächst wird die Diskussion der Professoren Joe Bain und George Stigler nachgezeichnet. Bain identifizierte verschiedene strukturelle Faktoren als Eintrittshindernisse, so etwa Kostenvorteile der etablierten Wettbewerber, Produktdifferenzierungen und economies of scale. Stigler hingegen sah das Haupthindernis für den Marktzutritt in den langfristigen Zusatzkosten, die ein Neuling im Gegensatz zu den vorhandenen Wettbewerbern zu tragen hätte, wobei diese Zusatzkosten auch durch staatliche Regulierungen veranlasst sein können. Der Ansatz von Stigler wurde als großzügiger angesehen.

Inzwischen begannen Wissenschaftler aber, Marktzutritte unter strategischen Aspekten (Spiel-Theorie) zu sehen. Zentrale Begriffe waren dabei die verlorenen Aufwendungen (sunk costs). Es macht einen Unterschied, ob bei einem Marktzutritt solche Aufwendungen anfallen oder nicht (committed or uncommitted entry). Wer Aufwendungen zu machen hat, die er beim Marktaustritt zurückerhält, wird vorsichtiger sein. In den Merger Guidelines reicht deshalb auch die Wahrscheinlichkeit (likelihood) eines solchen Eintritts aus. Ein potentieller Wettbewerber wird sich angesichts seiner Aufwendungen fragen, wie sich die Marktpreise nach seinem Zutritt entwickeln werden. Durch das zusätzliche Angebot muss der Preis fallen. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass die Wettbewerber reagieren und den Preis noch weiter nach unten treiben, möglicherweise bis auf ein Niveau, wo der Neuling seine Aufwendungen nicht mehr zurückverdienen kann. Es ist deshalb eine langfristige Betrachtung anzustellen, die kurzfristige Effekte ausschließt. Die Merger Guidelines haben dafür einen Rahmen entwickelt, den der Artikel im Einzelnen näher beschreibt.

 

Scheffman, Coate, Silvia:
Twenty Years of Merger Guidelines Enforcement at the FTC: An Economic Perspective


Der Artikel beschreibt die Praxis der Fusionskontrolle durch die FTC und erläutert einige Probleme der wirtschaftlichen Analyse, wobei umfassend auf Entscheidungen der FTC und der Instanzgerichte eingegangen wird.

Im Einzelnen werden behandelt:



Oliver Williamson:
Merger Guidelines of the US Department of Justice - In Perspective


Professor Williamson wirft einen Blick zurück auf die Jahre 1965 bis 1968. Damals begann wirtschaftliches Denken in der amerikanischen Fusionskontrolle Fuß zu fassen. Assistant Attorney General war Donald Turner, der vorher an der Harvard Law School Kartellrecht gelehrt hatte. Professor Williamson war sein Special Economic Assistant.

Williamson berichtet über die ersten Guidelines von 1968 und beschreibt zwei Fälle, an denen er beteiligt war: US vs. Schwinn (Supreme Court 1967) und eine Fusion von zwei Tageszeitungen in einer kleineren Stadt.