06.09.2024

EuGH verwirft Verweisungspraxis der Kommission und kippt Übernahmeverbot in der Rechtssache Illumina/Grail

EU
EuGH
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Kommission
Generalanwalt
Fusionskontrolle
Verweisungen
Art. 22 FKVO

PM EuGH: Zusammenschluss Illumina-Grail: der Gerichtshof hebt das Urteil des Gerichts auf und erklärt die Beschlüsse für nichtig, mit denen die Kommission Anträgen nationaler Wettbewerbsbehörden auf Prüfung des geplanten Zusammenschlusses stattgab (europa.eu)

Urteilstext: CURIA - Dokumente (europa.eu)

PM Illumina: Press Release (illumina.com) 

Am 3. September 2024 hat der Europäische Gerichtshofs (EuGH) in den verbundenen Rechtssachen C-611/22 P (Illumina v. Europäische Kommission) und C-625/22 P (Grail v. Europäische Kommission) in einem lange erwarteten Urteil die Frage entschieden, ob die Europäische Kommission berechtigt ist, Zusammenschlussvorhaben zu prüfen, die nach Artikel 22 FKVO durch eine nationale Kartellbehörde an sie verwiesen wurden, auch wenn weder die europäischen noch die nationalen Aufgreifschwellenwerte überschritten wurden. 

Der EuGH kam zu der Entscheidung, dass die entsprechende Praxis der Europäischen Kommission unrechtmäßig war. Ihr habe die Zuständigkeit gefehlt, die Übernahme des US-Krebstest-Herstellers GRAIL durch das US-Gensequenzierungsunternehmen Illuminat zu untersagen. Er hob die Entscheidung des EuG vom 13. Juli 2022, das die neue Verweisungspraxis zu Artikel 22 FKVO noch bestätigt hatte, auf und erklärte die zugrundliegenden streitigen Kommissionsbeschlüsse für nichtig. Damit folgten die EuGH-Richter dem Schlussantrags des Generalanwaltes Emiliou, der die Kommissionspraxis ebenfalls scharf kritisiert hatte (vgl. FIW-Bericht vom 22.03.2024, vgl. auch weitere FIW-Berichte vom 11.10.22, 15.02.2023 und 25.10.23). 

Aktuelles Urteil: 

In der Sache kommt der EuGH zu dem Schluss, dass nach einer wörtlichen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung der Fusionskontrollverordnung die nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Kommission nicht die Prüfung eines Zusammenschlusses beantragen können, der nicht nur keine europaweite Bedeutung hat, sondern darüber hinaus ihrer Kontrollzuständigkeit entzogen ist, weil er nicht die anwendbaren nationalen Schwellenwerte erreicht. Insbesondere könne Art. 22 FKVO nicht als „Korrektiv“ verstanden werden, das auf eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse mit erheblichen Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Union abziele. Dies würde das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen mit der FKVO verfolgten Zielen stören. 

Die Schwellenwerte, die festgelegt werden, um zu bestimmen, ob ein Zusammenschluss anzumelden ist oder nicht, seien ein wichtiger Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen, die leicht feststellen können müssen, ob ihr geplanter Zusammenschluss einer vorherigen Prüfung zu unterziehen ist und, wenn ja, durch welche Behörde und unter welchen Verfahrensanforderungen. 

Darüber hinaus wirft der EuGH der Kommission implizit vor, durch die fehlerhafte Auslegung von Art. 22 FKVO das institutionelle Gleichgewicht zwischen den Europäischen Institutionen zu stören – nur der Unionsgesetzgeber habe die Befugnis, die Aufgreifkriterien in der Fusionskontrollverordnung festzulegen, zu verändern oder Mechanismen vorzusehen, nach denen die Kommission Zusammenschlussvorhaben auch unterhalb der Schwellenwerte prüfen kann. Insofern zeigt der EuGH mit dem Hinweis auf den Vorrang der formellen Gesetzgebung der Kommission ihre Grenzen im Gefüge der Union auf und wirft ihr damit implizit eine Kompetenzüberschreitung vor. Zwei Aussagen sind besonders hervorzuheben: 

Das Urteil stellt kurz vor Ende der laufenden Amtszeit einen großen Rückschlag für die Europäische Kommission dar, die nun laut Ankündigung von Exekutivvizepräsidentin Vestager nach neuen Wegen suchen will, um sicherzustellen, dass sie weiterhin in der Lage ist, auch „killer acquisitions“ oder andere Fälle zu prüfen, in denen ein Zusammenschluss aus ihrer Sicht Auswirkungen auf den Wettbewerb in Europa hat, ohne die bestehenden Aufgreifschwellen zu erreichen. 

Hintergrund: 

Obwohl die Übernahme von Grail durch Illumina im Jahr 2021 weder nach den Vorschriften der EU-Fusionskontrollverordnung noch nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates der Fusionskontrolle (FKVO) unterlag, wurde sie von mehreren EU-Mitgliedstaaten gemäß Artikel 22 FKVO an die Kommission verwiesen. Die EU-Kommission hatte auf der Grundlage der Verweisung im September 2022 die Übernahme von GRAIL durch Illumina untersagt, weil sie Bedenken hatte, dass der Zusammenschluss Innovationen behindern und die Auswahl auf dem neu entstehenden Markt für Bluttests zur Krebsfrüherkennung einschränken würde. Illumina und GRAIL hatten den Zusammenschluss während der eingehenden Prüfung der Kommission dennoch vollzogen, woraufhin die Kommission gegen die beiden Unternehmen Geldbußen verhängt hat. 

Die Besonderheit an diesem Fall ist, dass die EU-Kommission das betreffende Zusammenschlussvorhaben seinerzeit auf mitgliedstaatliche Verweisungsanträge hin gemäß nach Artikel 22 FKVO überprüft hatte, obgleich die in der Fusionskontrollverordnung festgelegten Umsatzschwellen nicht erreicht wurden und das Vorhaben in den Mitgliedstaaten nicht angemeldet worden war. Für die Kommission stellte das Verweisungsverfahren nach Art. 22 FKVO mittlerweile ein wichtiges Werkzeug dar, um auf „Killer Acquisitions“ und vorläufigen Erwerb reagieren zu können. Sie stützte sich dabei auf eine angeblich zulässige „Rekalibrierung“ des Artikels 22 FKVO. Für die Unternehmen entstand dadurch erhebliche Rechtsunsicherheit, welche auch durch die Veröffentlichung von Leitlinien und Q&As nicht ausgeräumt werden konnte. Unternehmen und Verbände hatten sich verschiedentlich gegen die neue Praxis öffentlich ausgesprochen (vgl. z. B. Verbändepapier vom Februar 2023: Verweisungen nach Art. 22 EU-Fusionskontrollverordnung by Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. - Issuu).