15.05.2006

USA: Antitrust Modernization Commission diskutiert Kriminalstrafen und zivilrechtliche Ansprüche

USA
Antitrust Modernization Commiission

https://www.amc.gov

Die Antitrust Modernization Commission hat am 8. Mai 2006 in Washington in einer öffentlichen Sitzung zwei große Reformthemen erörtert: Criminal Remedies and Civil Remedies. Bisher sind nur die Arbeitspapiere der AMC für diese Sitzung auf der Website abrufbar. Es handelt sich jeweils um einen Diskussionsplan, mit dem die Fragen aufgelistet werden, sowie um ein Memorandum, in dem die Mitarbeiter der AMC zusammengetragen haben, was sich aus den verschiedenen Stellungnahmen und Anhörungen ergeben hat. Das Wortprotokoll der Sitzung wird wie üblich in einigen Wochen ebenfalls auf der Website erscheinen, aber schon die Memoranden sind für alle, die der amerikanischen Reformdiskussion folgen wollen, eine höchst interessante Lektüre. Wir fassen die Inhalte kurz zusammen:

Criminal Remedies Discussion Memorandum (19 Seiten)

Geldstrafen betragen unter dem Sherman Act höchstens 100 Millionen Dollar. Ihre genaue Höhe wird nach den Sentencing Guidelines ermittelt. Ergibt sich bei der Berechnung ein höherer Betrag, kann DoJ auf eine andere gesetzliche Regelung aus dem Jahr 1987 zurückgreifen, wonach die Geldstrafe das Doppelte des durch das Kartell erzielten Gewinnes oder verursachten Verlustes beträgt (twice the gain or loss). Soll man daran etwas ändern?

Nach den Sentencing Guidelines wird zunächst ein Grundbetrag festgelegt (base fine), der sich nach der Schwere der Tat (offence level), praktisch dem betroffenen Umsatz, nach dem Gewinn oder dem angerichteten Verlust bemisst. In der Praxis nimmt man den Verlust als Maßstab, denn hier kann DoJ die Vermutung in Anspruch nehmen, dass 20 Prozent des betroffenen Umsatzes als Verlust oder Schaden Dritter angenommen werden können („20 percent proxy“). Dieser Grundbetrag wird dann durch „multiplier“ herabgesetzt (0,75) oder vervielfacht (höchstens 4,0), was sich nach Faktoren wie Schuld, Vorhandensein eines compliance programmes oder dem Ausmaß der Kooperation mit der Behörde richtet.

DoJ hat bei der Verfolgung ein Ermessen und beantragt Geldstrafen nur gegen hard-core Kartelle, Ausschreibungsbetrug oder Marktaufteilungen, nicht aber bei harmloseren Verstößen, obwohl die Sentencing Guidelines dies hergeben. Soll dies klargestellt werden?

Die Vermutung von 20 Prozent beruht offenbar auf Untersuchungen im Jahr 1987, die 10 Prozent als Durchschnittsschaden ergeben haben und dies für die Strafbemessung verdoppeln. Ist dies heute noch richtig angesichts weltweiter Kartelle?

Soll man überhaupt mit Vermutungen arbeiten, oder kann man es nicht den Wettbewerbsbehörden zumuten, den tatsächlichen Schaden zu ermitteln? Müsste man dem Unternehmen nicht wenigstens die Möglichkeit der Widerlegung dieser Vermutung einräumen?

Wenn man auf „twice the gain or loss“ zurückgreift, wird dann das gesamte Kartell betrachtet oder nur der Anteil des einzelnen Kartellanten? Das Gesetz von 1987 schweigt dazu, Rechtsprechung gibt es nicht (!), weil Geldstrafen nicht vor Gericht angegriffen worden sind. DoJ nimmt stets das gesamte Kartell als Maßstab und schließt auf dieser Basis mit den Kartellanten Vergleiche, die dann gerichtlich bestätigt werden. Soll man das Problem weiterhin der Rechtsprechung überlassen? Ist es sinnvoll, dies nur für das Kartellrecht zu ändern, wenn doch dieses Gesetz auch Geldstrafen für alle anderen Verbrechen betrifft?

Wie ist der Zusammenhang zwischen der base fine des Sherman Act und dem gain or loss des Gesetzes von 1987? Ist dies mehr oder weniger dasselbe? Muss man dies vereinheitlichen?

Civil Remedies (Government) Discussion Memorandum (20 Seiten)

Dieses Dokument ist aus europäischer Sicht von eher geringerer Bedeutung. Es geht darum, ob DoJ und FTC das Recht erhalten sollen, Kartellverstöße mit Geldbußen zu ahnden, die in den USA als zivilrechtlicher Rechtsbehelf angesehen werden.

Die FTC kann nach Sec. 13 b FTC Act gegen kartellwidriges Verhalten einen Gerichtsbeschluss erwirken. Dies umfasst auch die Herausgabe von Mehrerlös (disgorgement) und Wiederherstellung des früheren Zustandes (restitution). Letzteres schließt auch Geldzahlungen ein (so der Supreme Court 1946 in Porter v. Warner Holding). Die FTC macht davon aber nur unter bestimmten Voraussetzungen Gebrauch (klarer Verletzungstatbestand, vernünftige Möglichkeit einer Berechnung der Geldzahlung sowie Vereinbarkeit mit anderen Sanktionen).

DoJ kann „civil penalties“ zum Gegenstand einer Klage vor Gericht machen. Es wird vertreten dass die Porter-Entscheidung auch hier anzuwenden sei, aber DoJ hat bisher „monetary relief“ in Antitrust-Fällen nicht beantragt.

In den Stellungnahmen zeigt sich, dass manche Stimmen den jetzigen Rechtszustand für ausreichend halten. Andere wollen Klarstellungen, eine Gesetzesänderung entlang der Porter-Doktrin oder Bußgelder wie in Europa. Ausschlaggebend dürfte allerdings sein, dass keine der beiden Wettbewerbsbehörden solche Vorschläge befürworten. DoJ lehnt sie rundweg ab, FTC „left the door open“, engagiert sich aber nicht für eine Änderung.

Civil Remedies (Indirect Purchaser) Discussion Memorandum (28 Seiten)

Soll nur der Erstabnehmer den Kartellanten auf Schadensersatz verklagen können oder jeder in der Abnehmerkette? Dies wird bekanntlich auch in Europa im Grünbuch der Kommission zu privaten Schadensersatzklagen problematisiert und war ein großes Thema der letzten GWB-Novelle. Die Situation in den USA spielte dabei eine große Rolle. Nun wird dort geprüft, ob sich daran etwas ändern sollte. Dies verdient unsere Aufmerksamkeit.

Im amerikanischen Bundesrecht gibt es die beiden bekannten Präzedenzfälle des Supreme Court: Hanover Shoe verbietet Kartellanten den Einwand, der Abnehmer habe den höheren Kartellpreis an seine Kunden weitergegeben (no passing-on defence), Illinois Brick nimmt allen außer dem Erstabnehmer, nämlich allen indirect purchasers, das Klagerecht. Im Recht der Einzelstaaten ist die Situation uneinheitlich. Mehr als 30 Staaten erlauben auch indirekten Abnehmern Schadensersatzansprüche (Illinois Repealer Statutes).

Was sind Vorteile und Nachteile dieses Rechtszustandes? Doppelte Verfahren vor Bundesgerichten und Einzelstaaten-Gerichten in derselben Sache sind letztlich höchst ineffizient. In einer solchen Lage ist die Zusammenfassung der Verfahren (consolidation) nicht möglich, was auch die Chancen für Vergleiche reduziert. Für die Beklagten ist die Doktrin vom collateral stoppal nachteilig: verliert er ein Verfahren, hat er alle verloren, gewinnt er einen Prozess, muss er auch alle anderen noch durchkämpfen.

Noch unklar ist, wie sich der Class Action Fairness Act (CAFA) auswirken wird. Er bezweckt, mehr Sammelklagen vor die Bundesgerichte zu bringen. Ob dies gelingt, ist allerdings offen. Manche vermuten, Anwälte würden aus strategischen Gründen Mittel finden, die Verfahren weiterhin vor Einzelstaaten-Gerichte zu bringen.

Argumente der Praktikabilität knüpfen an den Supreme Court an. Der Erstabnehmer ist am besten platziert, um gegen seinen Vertragspartner vorzugehen (aber geschieht dies auch immer? Dazu gibt es im Dokument einige statistische Angaben, die aber nicht repräsentativ sind). Können Zweitabnehmer klagen, erhöht dies die Abschreckung (so auch der EuGH im Courage-Urteil). Insofern halten sich die Standpunkte hier die Waage.

Beschränkt man Klagen auf die Erstabnehmer, blieben andere ohne Ersatz, was vielfach als ungerecht empfunden wird. Dem steht entgegen, dass erfahrungsgemäß bei Sammelklagen der einzelne Geschädigte sehr wenig erhält, die Anwälte hingegen viel mehr. Es kann bei Klagen der gesamten Abnehmerkette auch zu mehrfachem Schadensersatz kommen, allerdings wird auch vorgetragen, dass solche Fälle, die heute möglich wären, in der Praxis noch nicht aufgetreten sind. Ein besonderer Punkt ist die Schwierigkeit, die Schäden von indirect purchasers ordentlich zu berechnen, was tragender Grund für das Illinois-Brick-Urteil war.

Viele beklagen, dass es keine einheitliche Regelung für Bund und Einzelstaaten gibt. Dies führt zu den Optionen, die auf das amerikanische föderale System zugeschnitten sind. So könnte die bundesstaatliche Regelung künftig kraft Gesetzes der einzelstaatlichen vorgehen (was heute nicht der Fall ist), man könnte Illinois Brick zum Maßstab machen oder der Kongress könnte die Entscheidung völlig umkehren.

Die Stellungnahmen, die AMC erhalten hat, gehen weit auseinander, sowohl in der faktischen Analyse als auch bei den Vorschlägen für eine Abhilfe. So ist nicht auszuschließen, dass AMC denjenigen Stimmen folgt, die alles beim Alten lassen wollen und darauf vertrauen, dass CAFA mehr Fälle vor die Bundesgerichte bringen wird.

Civil Remedies (Damages and Liability) Discussion Memorandum

Dieses Dokument dürfte auf großes Interesse stoßen, werden darin doch Probleme analysiert, die sämtlich auch im Grünbuch der Kommission über private Schadensersatzklagen aufgeworfen worden sind: dreifacher Schadensersatz, Verzinsung ab Kartellverstoß, Ersatz der Anwaltskosten sowie gesamtschuldnerische Haftung der Kartellanten und interner Schadensausgleich.

Der dreifache Schadensersatz wird durch Sec. 4 Clayton Act für alle Kartellverstöße zwingend angeordnet. Gründe für den Gesetzgeber waren: Abschreckung, Gewinnabschöpfung, Bestrafung, Gewährleistung vollen Schadensersatzes sowie Anreiz für Klagen. Kritiker halten die gesetzliche Regelung für zu starr: Beschränkung des Mehrfachschadensersatzes auf Gruppen von Verstößen (per-se-Verstöße? Nur bei Verstößen, die auch mit Kriminalstrafen geahndet werden? Nur bei heimlichen Verstößen? Einfacher Schadensersatz bei follow-on-Klagen?) oder nach den Umständen des Falles (Ermessen des Gerichts)? Andere möchten den Multiplikator ändern und die Wahl dem Gericht überlassen. Diese Vorschläge und Argumente werden in dem Papier mit ihren Vorteilen und Nachteilen gegeneinander abgewogen. Für die Kritiker ist die übermäßige Abschreckung das Hauptargument: Unternehmen würden aus Furcht vor Mehrfachschadensersatz möglicherweise wettbewerbsfördernde Handlungen unterlassen.

Zinsen vor dem Urteil (pre-judgement interest) hat seit 1980 Sec. 4 Clayton Act zugelassen, wenn dies nach den Umständen angemessen ist (just in the circumstances). Es gibt aber keine veröffentlichte Entscheidung, in der von dieser Öffnung Gebrauch gemacht worden wäre. In den Stellungnahmen ist zu diesem Punkt wenig vorgetragen worden, so dass man wohl ein Festhalten am gegenwärtigen Rechtszustand erwarten kann.

Anwaltskosten muss der Beklagte dem erfolgreichen Kläger ersetzen, was ebenfalls Sec. 4 Clayton Act vorsieht. Dies ist eine zwingende Vorschrift. Der erfolgreiche Beklagte erhält einen solchen Ersatz nicht. Die Regelung soll Kläger ermutigen. Dieses Prinzip wird in den Stellungnahmen nicht in Frage gestellt, aber verschiedene Kommentatoren empfehlen, unter bestimmten Umständen auch Beklagten den Ersatz der Anwaltskosten zuzusprechen, etwa bei frivolous claims. Auch in diesem Punkt war die Debatte bisher eher verhalten.

Ausführlich befasst sich das Dokument mit der Haftung aller Kartellanten. Sie ist nach der Rechtsprechung gesamtschuldnerisch. Dies ist eine gewollte Erleichterung für die Kläger. Verbunden mit dem dreifachen Schadensersatz erhöht die gesamtschuldnerische Haftung für Kartellanten den Anreiz, einen Amnestieantrag zu stellen. Als Einwand wird vorgetragen, dass dies zu strategischem Verhalten der Geschädigten führen kann (deep pocket) und dass die Kartellanten zu schnell in Vergleiche hineingetrieben werden, selbst wenn die Vorwürfe nicht ausreichend begründet sind. Entscheidend ist wohl der Hinweis, bei nur anteiliger Haftung jedes Kartellanten müssten die Gerichte mühsam jeden Anteil berechnen.

Erörtert wird auch, wie es sich auf die anderen auswirkt, wenn ein Kartellant einen Vergleich schließt. Wird die Vergleichssumme abgezogen, bevor der Schadensersatz verdreifacht wird, oder nachher? Dies kann finanziell einen großen Unterschied machen.

Unter den Kartellanten findet kein Schadensausgleich (contribution) statt. Soll man daran etwas ändern? Die Gegner verneinen dies mit Hinweis auf die Abschreckung, die Befürworter führen Fairness ins Feld, was vor allem in Fällen der rule of reason angebracht erscheint. Ein Ausgleich würde es erlauben, in einem Gerichtsverfahren die Ausgleichsansprüche nach dem Verschulden jedes einzelnen Unternehmens zu bemessen. Auf der anderen Seite würde für die Kartellanten der Druck, sich zu vergleichen, gemindert, weil bei einer Verurteilung Ausgleichsansprüche gegen die anderen bestünden. Dies wirkt sich dann auch wieder auf die Abschreckung aus. Einige Stimmen haben darauf aufmerksam gemacht, dass man nicht nur die Parteien betrachten dürfe, sondern eine Regelung vor allem auch für die Gerichte praktikabel handhabbar sein müsste.