16.06.2006
Philip Collins (OFT): Public and Private Enforcement - Challenges and Opportunities (Vortrag)
Großbritannien
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https://www.oft.gov.uk/news/speeches+and+articles/index.htm |
Der Vorsitzende der britischen Wettbewerbsbehörde (Office of Fair Trading), Philip Collins, hat am 6. Juni 2006 vor der European Group der Law Society einen Vortrag über die private und behördliche Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gehalten (Public and Private Enforcement: Challenges and Opportunities, 16 Seiten).
Mr. Collins befasst sich zunächst mit der privaten Rechtsdurchsetzung im englischen Recht:
- Seit über 20 Jahren hat die Rechtsprechung dafür die Grundlagen geschaffen. Bekanntester Fall aus jüngster Zeit ist Provimi v. Aventis (Entscheidung des High Court), wonach in England im Rahmen einer Schadensersatzklage auch Schäden eingeklagt werden können, die in anderen EU-Staaten erlitten worden sind.
- Gleichwohl sind wenige Fälle vor Gericht gebracht worden. Gründe: außergerichtliche Einigung, Schiedsverfahren, Mediation. Regelmäßig ist es für die Geschädigten immer noch besser, zunächst das OFT mit seinen besseren Ermittlungsmöglichkeiten zu befassen und sich daran anzuhängen. Die Prozessrisiken mögen auch hier eine Rolle spielen.
- OFT kann die private Rechtsverfolgung hauptsächlich durch Aufklärung befördern (Seminar im Herbst geplant), aber auch durch Fortbildung von Richtern im Wettbewerbsrecht. Schließlich könnte der Aspekt privaten Schadensersatzes auch berücksichtig werden, wenn das OFT auswählt, in welchen anhängigen Fällen es eine Stellungnahme nach Artikel 15 VO 1/03 abgeben will. Auch bei der allgemeinen Setzung von Prioritäten bei der Verfolgung von Wettbewerbsverstößen könnte ins Kalkül gezogen werden, ob und wer Schäden erlitten hat.
- Sec. 16 des Enterprise Act 2002 ermächtigt den Lord Chancellor, durch Verordnung den Gerichten das Recht zu geben, Kartellfälle dem Competition Appeal Tribunal zu übertragen. Davon ist bisher noch nicht Gebrauch gemacht worden. Geschähe dies, würde ein Spezialgericht zuständig, was sich möglicherweise auch auf die private Rechtsdurchsetzung auswirkte.
- Die private Rechtsdurchsetzung stellt keine echte Gefahr für das Bonusprogramm dar, denn es gibt weiterhin gute Gründe, solche Anträge zu stellen (compliance, corporate governance), etwa das Bestehen von Regressansprüchen gegen den Verkäufer bei Unternehmenskäufen, reiner Tisch durch neues Management oder das Risiko, nicht als Erster eine Anzeige einzureichen.
- Soll ein privater Kläger Zugang zu Leniency-Dokumenten haben? Das OFT ist dagegen, müsste aber einer entsprechenden Anordnung eines Gerichtes Folge leisten. In gewissem Umfang müssen auch Dokumente an die anderen Kartellanten herausgegeben werden, um deren Recht auf Verteidigung nicht zu verletzen, aber Einschränkungen sind angebracht (in einem Fall sollen solche Dokumente dann doch zur Begründung einer Klage in den USA verwendet worden sein).
- Es soll bei der gesamtschuldnerischen Haftung der Kartellanten gegenüber Geschädigten bleiben. Deshalb kann auch ein Unternehmen verklagt werden, das Leniency beantragt hat, aber nach englischem Recht können die Gerichte dem Unternehmen einen Regressanspruch (bis zu 100 Prozent) gegen die Mit-Kartellanten zusprechen. Offen ist, wie es sich verhält, wenn sich ein Kartellant, der Immunität erhalten hat, mit dem Geschädigten vergleicht und die anderen Kartellanten vor Gericht durchfechten. Wie steht es dann mit dem Ausgleich? Die Gerichte sollten hier zurückhaltend sein (reluctant).
- Angesichts des Umfangs und der Komplexität von Wettbewerbsprozessen fragt sich, ob die Regel „Loser pays all“ noch angemessen ist.
Mr. Collins wendet sich dann der Kartellverfolgung durch das OFT zu:
- Es ist ein System der Prioritätensetzung eingerichtet worden (Rede Collins vom 1.12.2005, auf der Website a.a.O., FIW-Aktuelles vom 12.12.2005.
- Soll man ein „plea bargaining“ befürworten (Englisch: settlement)? Dies ist jüngst im Fall der Privatschulen geschehen, die sich über die Studiengebühren abgestimmt hatten und sich zu freiwilligen Zahlungen verpflichtet haben. Dies schont Ressourcen der Behörde, aber die Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen. Es gibt ein Spannungsverhältnis, wenn ein Kartellant sich nach zwei Seiten vergleichen muss, mit dem OFT und mit eventuellen Klägern. Soll man Behördenvergleiche deshalb auf Fälle beschränken, wo kein Schadensersatz droht? Man könnte den Unternehmen auch einen Anreiz geben, indem das Bußgeld reduziert wird, wenn sie sich zum Schadensersatz verpflichten. Darüber denkt OFT nach. Dann müssten aber zumindest gegen das Unternehmen Beschwerdepunkte formuliert werden und das Bußgeld soweit konkretisiert werden, dass man es wieder reduzieren kann. Nicht geschehen darf, dass die Unternehmen keine leniency-Anträge mehr stellen und bei Entdeckung dann eine Reduzierung der Geldbuße durch Zusage von Schadensersatz erkaufen. Letztes Problem wäre die Identifizierung der Anspruchsberechtigten.
- OFT überlegt auch ein neuartiges Amnestieprogramm für ganze Industriezweige, die kartellanfällig sind. Würde eine solche Amnestie ausgerufen, könnten sich die Unternehmen offenbaren und OFT würde nur maßvoll gegen sie vorgehen (take limited action). Wer die Chance nicht nutzt, würde später härter bestraft (ähnlich Amnesty Plus in den USA).
- OFT arbeitet an einer Verbesserung seiner Beziehungen zu anderen Beteiligten. Die Unternehmen sollen durch die Informationsbeschaffung nicht unverhältnismäßig belastet werden. Dies setzt aber voraus, dass vernünftige Fristen von den Unternehmen eingehalten werden und man auf Behinderungen des OFT verzichtet. Zwei Taktiken werden angeprangert: die Überflutung des OFT mit (oft irrelevanten) Materialien ohne Inhaltsangaben und der Streit um Rechtspositionen, die für den Ausgang des Verfahrens allenfalls nebensächlich sind. OFT appelliert an die Berater, ihre Schriftsätze benutzerfreundlich zu gestalten (user-friendly), nämlich übersichtlich, kurz und knapp. OFT ist ferner auf der Hut vor Wettbewerbern, die Kartellanzeigen nur benutzen, um ihren Konkurrenten Steine in den Weg zu legen.